Fakt zweiundvierzig

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Fakt zweiundvierzig: Die Schwierigkeit besteht in der Überwindung.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die Zeit jemals so lange still gestanden hätte. Doch in diesem Moment tat sie es. Wie zähflüssiger Honig driftete sie dahin und das einzige Geräusch, welches meine Ohren erreichen konnte, war mein eigener Herzschlag, der unkontrolliert hämmerte. Eines der Kinder hatte meinen Fehltritt bemerkt und zeigte nun mit ausgestrecktem Finger in meine Richtung. Vielleicht hätte ich verstehen können, was es sagte, wenn es englisch gesprochen hätte. Jetzt aber hörte ich diese fremde Sprache schon zum zweiten Mal.

Einige der Mütter blickten auf und sahen neugierig dorthin, worauf das Kind zeigte. Es verstrichen einige Sekunden, dann widmeten sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Gerade wollte ich erleichtert aufatmen, als das kleine, vielleicht dreijährige Kind auf mich zugelaufen kam. Lachend.
Am liebsten hätte ich geweint und als ich ein Kitzeln an den Wangen spürte, wusste ich, dass ich es tatsächlich tat. Es würde mich sehen. Ein kleiner Junge würde mein Verderben sein.

Er kam immer näher, ich konnte seine Konturen erkennen, seine winzigen Milchzähne sehen. Sein Blick ging direkt zu meinem Gebüsch, als ob er sicher wissen würde, dass ich dort war. Nur noch ein paar Schritte. Und dann stand er direkt vor mir.
Meine Augen weiteten sich vor Schock, während seine mich anstarrten. Und er lächelte. Die Blätter konnten mich nicht ausreichend schützen. Ich war verloren.
Doch er tat nichts. Er sah mich einfach bloß an. Ich wusste ja, dass Menschen nicht böse geboren wurden, doch irgendwie hätte ich das in diesem Fall angenommen.

Zitternd presste ich meinen Zeigefinger auf die Lippen.
„Pscht", machte ich und hoffte, dass er mich verstand. Tränen rannen mir weiterhin das Gesicht hinunter und tropften von meinem Kinn.
Dann – ganz plötzlich – streckte er seine kleine, kindliche Hand nach mir aus und strich mir vorsichtig über die Wange.
Danach lief er wieder zu seiner Mutter, die augenscheinlich gar nicht bemerkt hatte, dass er fort gewesen war. Mein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder, der Schweiß auf meiner Stirn trocknete.

Ich hätte vermutlich noch Stunden hier hocken können, warten, ob das Kind dichthielt und um mich auszuruhen. Dieses Bedürfnis wurde von zwei Händen gestört, die mich packten.
„Viel Zeit haben wir nicht mehr", sagte der Professor und zog mich unsanft vom Boden hoch. „Amelie sucht nach einem Ast, der dick genug ist, um das Gewicht zu halten."
Minuten später legte sich das Stück Holz in die Grube. Amelie hatte zum Glück einen finden können, der dick und lang genug war.
„Und jetzt", erklärte der Professor und sah nach unten. Er sprach, als würde er einem Kind etwas sagen, nicht zwei erwachsenen Männern. „Jetzt haltet ihr euch an dem Ast fest und versucht eure Füße in die Erde zu hauen."

„Kann das funktionieren?", fragte ich Amelie und kaute wieder einmal nervös auf meiner Unterlippe herum. Sie zuckte mit den Schultern.
„Sie haben ein Boot. Es muss einfach klappen."
Ich sah, wie Jared seine Füße in kleinen Abständen in die Erde haute, während er sich an dem Ast abstützte. Es entstanden keine großen Löcher, doch sie reichten aus, damit er etwas Halt fand. Meiner Meinung nach übertrieb er etwas mit der Menge der Löcher, doch schätzungsweise tat er das für Ira.
„Das ist gar nicht mal so einfach", sagte er leise. Ich hörte die Anstrengung aus seiner Stimme heraus.
„Du schaffst das", antwortete ich und sah zu ihm hinunter. Bei Jared machte ich mir wirklich keine Sorgen. Er war sportlich und hatte eine trainierte Figur. Wenn er sich nur an dem Stock festhielt, den der Professor oben sicherte, könnte er es schaffen. Bei Ira war ich mir nicht so sicher. In der Zeit auf der Insel hatte er zwar einiges abgenommen, jedoch war er noch immer übergewichtig und nicht so stark wie sein Onkel.

Es dauerte etwas, doch schon bald erreichten Jared's Hände den Rand der Grube. Amelie und ich packten ihn an je einem Arm und halfen ihm dabei, sich hochzuziehen, während der Professor noch immer den Ast hielt, damit er nicht wegrutschte.
Jared richtete sich zu seiner vollen Größe auf, kniete sich dann aber schnell wieder hin, als er merkte, dass die Frauen ihn so sehen könnten.
„Von hier oben sieht alles ganz anders aus", lachte er leise und zog mich in seine Arme. Der Geruch, der von ihm ausging, war unerträglich, doch meine Erleichterung war größer. Ich hielt ihn ganz fest und war froh, ihn wieder hier zu haben.

„Jetzt du, Ira", sagte ich dann, als ich mich wieder gelöst hatte und nickte ihm zu.
„Ich ... ich kann das nicht", murmelte er und starrte verängstigt auf den Ast. Bei Jared war er stabil gewesen, doch ich fragte mich, ob das auch bei Ira der Fall sein würde.
„Natürlich kannst du das", flüsterte ich und sah ihn bittend an. Er musste sich beeilen.

„Verdammt, schwing deinen fetten Hintern hier hoch", zischte Jared.
„Wir helfen dir auch, Junge", redete ihm der Professor zu. „Hab keine Angst."
„Bitte, Ira", hauchte ich. „Du kannst nicht hier bleiben."
Ira holte tief Luft, sein Gesicht war bleich. Doch dann packten seine Hände den Ast und sein Fuß grub sich in eine von Jared's Spuren.

„So weich ist die Erde nicht. Sie ist hart", beschwerte er sich. Der Ast knackte verdächtig und ich begann, die Luft anzuhalten. Sobald Ira so weit oben war, dass man ihn berühren konnte, packte Jared ihn unter der Schultern und half ihm, damit er, falls der Ast nachgeben würde, nicht fiel. Ich persönlich fand die Idee nur mehr oder minder intelligent. Würde der Ast nachgeben, würde Ira's Gewicht ihn in die Tiefe reißen und wir stünden bei Null. Dennoch war ich ihm dankbar. Den Gedanken, dass Ira wieder in die Grube zurückfiel, konnte ich nur schwer ertragen. Sobald sein Kopf aus diesem Loch hervorlugte, griff auch ich nach seinem Arm und zog ihn mit Jared zusammen nach oben. Der Schweiß lief ihm die Stirn entlang und man merkte ihm an, dass es ihn angestrengt hatte.
Doch ich hätte schwören können, dass ich in diesem Moment nicht glücklicher hätte sein können. Zufrieden schloss ich Ira in meine Arme und ich wusste, dass jetzt alles wieder gut werden würde, wenn er nur bei mir war.

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