Fakt siebzehn

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Fakt siebzehn: Wenn du es nicht wissen willst, frag nicht.


„Du hast ein Kind?", fragte ich ungläubig und starrte ihn von der Seite an. Seine Gesichtszüge krampften sich schmerzlich zusammen und für einen Moment hielt er in der Bewegung inne. Es sah aus, als ob er etwas sagen wolle, doch dann drehte er sich einfach um und ging.
„Jared, warte!", rief ich und lief ihm hinterher, was sich im Wasser als gar nicht so einfach herausstellte.
Als er den Strand erreichte und sich sein klatschnasses Shirt über die Schulter warf, änderte ich meine Meinung und blieb stehen. Es hatte ja doch keinen Sinn.
In dieser Hitze dauerte es nicht lange, bis meine Klamotten wieder trocken waren und nicht mehr am Körper klebten.
Ich hatte mich ein Stück abseits gesetzt und beobachtete das ruhige, glasklare Meer, welches sich vor mir erstreckte und die Illusion hervorrief, dass alles wirklich wunderbar wäre. Würde ich diesem Anblick von nun an ewig ausgesetzt sein?
Vom weiten hörte ich Ira rufen. Seine Stimme klang hoch erfreut. Er musste Jared also gefunden haben.

Das Problem am allein sein war, dass man viel zu viel Zeit zum nachdenken hatte. Seitdem wir auf dieser Insel gestrandet waren, waren schon einige Tage vergangen. Niemand hatte uns gefunden. Ich fragte mich, ob sie wohl ansatzweise auf die richtige Spur gekommen waren. Einmal mehr wünschte ich mir, ich hätte Lacey von meinem Vorhaben erzählt und ihr zumindest eine SMS geschickt. Zumindest wüssten sie so, wonach sie suchen mussten ...
Dann war da noch Jared. Er war lange fort gewesen und wir hatten ihn nicht gefunden. Gab es auf dieser Insel möglicherweise doch mehr, als wir ahnten? Oder hatte er bloß jeden erdenklichen Winkel abgesucht? Doch wieso erzählte er es nicht einfach? Wollte er einfach stur bleiben und trotzig sein?

Als die Sonne unterging, setzte sich jemand zu mir.
„Er schläft", murmelte Ira und warf einen kleinen Stein ins Wasser, der ein plätscherndes Geräusch ergab.
„Ich wusste gar nicht, dass er ein Kind hat." Von all den vielen Dingen, die ich wirklich unbedingt wissen wollte, fiel mir seltsamerweise das als Erstes ein.
Ira nickte.
„Ich hatte mir Jared anders vorgestellt. Diese Information ändert mein Bild von ihm ein wenig", sagte ich und malte mit einem Finger Kreise in den Sand.
„Nun, es gibt viele Dinge von uns, die du nicht weißt." Als ich ihn ansah, überkam mich plötzlich das Gefühl, dass die beiden viel tiefgründiger waren, als ich dachte. In ihnen könnte noch so viel mehr stecken, als es auf den ersten Blick vermuten ließ.
„Viel zu viele Dinge", murmelte er und er wirkte nachdenklich. Dann hellte sich sein Gesicht auf und er sprang auf die Beine. „Ich hab ne' Idee." Seine Aufregung war kaum zu überhören. Ob ich von der Idee so begeistert sein würde, wusste ich nicht ... „Wenn Jared nachher wieder wach ist, spielen wir ein Spiel!"
„Ein Spiel?", fragte ich verwundert. Wir waren in einer ausweglosen Situation, kannten uns kaum (gut, bis auf die beiden Männer) und Ira wollte spielen?
„Ja!"

Der Himmel wurde schon in ein sanftes dunkelblau getaucht, als Jared mit grunzenden Geräuschen und sabbernd endlich aufwachte. Mittlerweile war ich neugierig geworden und wollte nun wissen, was Ira vorhatte.
Er ließ Jared ein paar Minuten, um richtig wach zu werden, dann flitzte er aufgeregt hin und her, bis er vor uns mit einer Flasche zum Stehen kam.
„Nein", wisperte ich, als ich ahnte, was er vorhatte. „Nein, Ira."
„Was ist hier los?", fragte Jared, rieb sich verschlafen über die Augen und stützte dann die Arme hinter sich im Sand ab.
„Liv und ich haben festgestellt, dass wir überhaupt gar nichts voneinander wissen", begann Ira vergnügt. „Angesichts unserer Situation sollten wir das schleunigst mal ändern."
„Können wir aber auch lassen", murrte Jared. „Ich kenne dich." Er zeigte mit dem Finger auf Ira und wanderte dann zu mir. „Und ich glaube, sie will ich gar nicht kennenlernen."
„Komm schon, Leute. Das wird wirklich lustig!" Lustig, ja? Ich konnte mir nicht vorstellen, was an Flaschendrehen lustig sein sollte, wenn man aus der Pubertät raus war.
„Warum fragst du sie nicht einfach, wenn du was über sie wissen willst?", knurrte Jared.
„Weil sie dann ausweichen könnte." Wow, ich hasste es, wenn man über mich sprach, als wäre ich überhaupt nicht anwesend. „Bei dem Spiel sind alle fragen erlaubt." Und genau das ließ mich aufhorchen. Wenn er antworten musste, konnten wir Jared über die letzten Tage ausfragen. Ira sah zu mir rüber. Er musste gemerkt haben, dass ich es verstanden hatte. Unauffällig zwinkerte er mir zu.
„Ich bin dabei", sagte ich dann spontan und hockte mich auf die Knie. „Zwei gegen Einen. Wir spielen!"
Jared klang alles andere als begeistert, aber dennoch stimmte er zu. „Hab ja sonst nichts zu tun", knurrte er und setzte sich gegenüber von mir.
Ira legte die Flasche in die Mitte und drehte. Doch natürlich klappte es nicht.
„Mist", sagte Ira und ließ sich enttäuscht nach hinten fallen. Das hätte ich ihm eigentlich auch vorher sagen können ...Wobei ich auch nicht darauf gekommen war.
„Warte", meinte ich und lief kurz ein Stück in den Dschungel, um mir einen kleinen Ast abzubrechen. Dann teilte ich ihn in drei unterschiedlich große Stücke. „Derjenige, der den kleinsten Stock zieht, muss eine Frage beantworten.
„Ohne Pflicht?", fragte Ira.
„Natürlich", antwortete Jared. „Was sollen wir hier schon groß machen? Mitternachtsbaden, Bananen pflücken, den heißesten Kerl auf der Insel küssen?" Er lachte leise, grollend und warf dabei einen Blick auf mich. Nein, danke. „Wobei ...", fügte er hinzu. „Mit strippen wäre ich dabei."
„Nur mit Fragen", warf ich schnell ein und sah hastig zu Ira, um seine Bestätigung zu bekommen.
„Gut, nur Fragen", stimmte er ein.
„Ihr Langweiler", sagte Jared, den Blick auf mich gerichtet und schnalzte verächtlich mit der Zunge.
Ich hielt Ira die Hand mit den Stöckchen hin. Ich spürte, dass er einen der Langen zog. Dann streckte ich die Hand zu Jared und öffnete danach meine Eigene. Ich war dran. 

„Okay, wer will die Frage stellen?"

„Ich!", rief Ira schnell und irgendwie war ich ziemlich erleichtert darüber. Wer weiß, was Jared für Fragen stellte ... Er atmete einmal tief durch und setzte dann an. „Hast du einen Freund,Liv?"
Plötzlich zerriss Jared's Lachen die darauffolgende Stille. „Hast du einen Freund, Liv?", äffte er ihn nach. „Alter, das spielt hier doch keine Rolle. Solange wir feststecken, ist die Vergangenheit egal. Wer weiß, wann wir die Anderen wiedersehen!"Offenbar hatte Jared sich an seinem eigenen Lachen verschluckt. Sein Husten war für mich befriedigend. Geschah ihm recht!
Ich wandte mich Ira zu. „Nein, ich habe keinen Freund", sagte ich dann. Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie einen Freund gehabt, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte, Ira erleichtert aufatmen zu hören. Ich sammelte die Stöckchen wieder ein und verteilte sie erneut. Dieses Mal zog Ira den Kürzeren.
„Warum ist dein Onkel so bescheuert?", fragte ich und warf Jared einen wütenden Blick zu.
„Vermutlich angeboren", erwiderte Ira und nickte.
„Und dafür hast du deine Frage verschwendet, Mädchen?", lachte er und schüttelte amüsiert den Kopf.
Wir spielten noch ein paar Minuten mit ganz banalen Fragen. Dann war ich an der Reihe, Jared zu fragen.
„Warum hast du nichts von deinem Kind erzählt?", fragte ich und fühlte mich dabei ziemlich selbstsicher.
Doch Ira riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Er bedeutete mir, dass es definitiv die falsche Frage gewesen war. Aber ausgesprochen war sie nun. Jared zog scharf die Luft ein.
„Wieso hätte ich das tun sollen?"
„Keine Gegenfragen bitte", antwortete ich. Nervös ließ ich den Sand zwischen meinen Fingern rieseln.
„Was ist das für eine Frage, Mädchen?", keifte er mich an. „Ich habe eine dreijährige Tochter, und?"
Nun fühlte ich mich nicht mehr so selbstsicher ... „Mit der Mutter bin ich nicht mehr zusammen, ist es das, was du wissen willst?" Mir hatte es die Sprache verschlagen. Wieso konnte er mich so dermaßen einschüchtern? Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. „Was willst du dann wissen, hm?" Ich spürte fast körperlich, wie wütend er war. Ich hätte mich ohrfeigen können! Warum musste ich ausgerechnet diese Frage stellen? „Willst du wissen, dass ich sie kaum sehen darf? Das ihre Mom vielleicht sogar froh ist, dass ich weg bin? Oder das sie einen Ersatzdaddy hat? Oder interessiert es dich, dass sie Krebs hat und vermutlich ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben wird?" Mir war gar nicht aufgefallen, wie mir bei seinen Worten die Tränen kamen. Seine Tochter war krank und er durfte sie kaum sehen? Das war furchtbar. Und jetzt war er auch noch auf einer Insel gefangen. Mein ganzer Körper zitterte mittlerweile. Seine Wut richtete sich gegen mich. Hilfesuchend sah ich mich nach Ira um.
„Ist gut, Jar", murmelte er sanft. „Wir können jetzt aufhören zu spielen."
Zu meiner Überraschung verneinte Jared. „Nein, lasst uns weitermachen."
In den nächsten Runden, traute ich mich kaum Fragen zu stellen. Bloß irgendwelche Sachen über Lieblingsschauspieler, Fragen nach Geschwistern oder sonst welche unwichtigen Dinge, verließen meine Lippen. Dann war Ira dran.
„Jared", sagte er und ich sah, wie er sich kurzzeitig auf die Zunge biss und tief durchatmete. Er wappnete sich. „Was befindet sich noch auf dieser Insel?" Seine Frage trieb mir eine Gänsehaut auf meine Arme. Wie kam er darauf, dass sich tatsächlich etwas hier befand? Ich hatte mir schon einreden wollen, dass Jared sich verlaufen hatte und bloß zu stolz war, es zuzugeben.
Jared lachte leise und beugte sich nach vorne, um uns näher zu sein. Fast schon konnte ich seinen Atmen auf meiner Haut spüren, als er sprach. „Etwas, wovon ihr lieber nichts wissen wollt."


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