Fakt achtundzwanzig

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Fakt achtundzwanzig: Manchmal wiederholen sich bestimmte Ereignisse.

Kurz nachdem wir Jared die letzten Tabletten gegeben hatten, war er eingeschlafen. Ich hielt es für ein gutes Zeichen. Schlafen war die beste Medizin. Zumindest hatte Mom das immer behauptet.
Etwas zerknirscht richtete ich meinen Blick auf Ira und seufzte. Doch er schien es nicht zu bemerken.
Wir hatten beschlossen, seine Idee in die Tat umzusetzen und liefen nun stetig in die eine Richtung. Hier war ich etwas weniger oft gewesen und so passte es mir ganz gut, dass er den rechten Weg vorgeschlagen hatte.

„Was, wenn Jared nicht wieder gesund wird?", fragte ich, während ich versuchte, mich im Schatten zu halten. Die Sonne war auch am späten Nachmittag noch unerträglich heiß.
„Er wird es", antwortete er. Ich vermutete, dass er es nicht einmal in Betracht zog, was noch passieren könnte ... Ein ungünstiges Thema.
„Dir wird gar nicht schlecht beim Anblick von Blut oder?", versuchte ich etwas abzulenken.

Ira schüttelte den Kopf und mir fiel auf, dass seine Haare länger geworden waren. Vielleicht sollte man mal versuchen sie zu schneiden. Auch meine waren mir mittlerweile zu lang geworden, auch wenn es nur wenige Zentimeter waren, die hinzugekommen waren. Ein Kurzhaarschnitt wäre bestimmt kühler. Besonders bei meinem dicken Haar ...
„Früher wollte ich immer in einem Krankenhaus arbeiten", gestand er. Begeistert klang er dabei nicht.
Überrascht blickte ich auf. „Ach wirklich?", fragte ich und musste grinsen. „Ich hatte immer gedacht, mehr als Fernsehen und Computerspiele gab es für dich nicht."
Ira zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Das ist wirklich beleidigend, Liv", sagte er.
„'Tschuldige."

Ich hatte die Schuhe ausgezogen und spürte nun den feinen, warmen Sand, der sich um meine Füße schmiegte. Als Kind hatte ich es geliebt, wenn ich mit meinen Eltern an den Strand gefahren und den ganzen Tag Barfuß gelaufen bin. Heute war dies mein Alltag.
„Was ist mit dir?", fragte Ira plötzlich und riss mich so aus meinen Gedanken heraus. „Wo wolltest du arbeiten?" Bei dieser Frage zuckte ich leicht zusammen. Dies war eins der Streitthemen zwischen meinen Eltern und mir gewesen.

„Ich wusste es nicht", gab ich zu und starrte auf das Meer. Zwar hatte ich Praktika in verschiedenen Bereichen gemacht, aber trotzdem hatte ich mich nie für einen Beruf entscheiden können. Noch nicht einmal für eine Richtung ...
„Auf der Insel hast du Zeit darüber nachzudenken", sagte Ira und lächelte mich aufmunternd an. „Wenn wir hier runter sind, will ich mich bemühen, meinen Traum zu verwirklichen. Das kannst du auch tun." Und für einen Moment hatte ich tatsächlich die Hoffnung, es herauszufinden. Es angehen zu können. Doch dann erinnerte ich mich daran, wo wir waren und dachte darüber nach, ob wir überhaupt jemals wieder hier wegkommen würden. Wenn nicht, dann würde sich die Berufswahl erübrigen.

„Meinst du wirklich, die anderen Menschen könnten ein Boot gehabt haben?", fragte ich, damit wir endlich von diesem unangenehmen Thema wegkamen.
„Ich weiß es nicht, wenn ich ehrlich bin. Aber irgendwie müssen sie hier gestrandet sein. Und ich glaube kaum, dass ihr Aufenthalt hier auf freiwilliger Basis gewesen ist. Ein Flugzeug oder so etwas habe ich auf dieser Insel zumindest nicht gesehen. Aber unseres ist ja auch nicht mehr da." Unsicher zuckte er mit den Schultern. „Vielleicht haben wir Glück."
„Glück ist etwas, was wir schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gehabt haben", erwiderte ich.

Als die Sonne langsam im Meer verschwand, beschlossen wir umzukehren. Im Dunklem hatte die Suche sowieso keinen Sinn mehr und Jared könnte in der Zwischenzeit aufgewacht sein. Wir überlegten uns eine Ausrede und beschlossen, dass er wohl nicht zur Wasserquelle gelaufen sein würde, weshalb wir diese als unseren offiziellen Aufenthaltsort bestimmten.
Es dauerte eine Weile, bis wir die angefangene Hütte erblickten und ich mich endlich in den Sand fallen lassen konnte.

Ira sah nach Jared und ich lehnte mich erschöpft gegen einen Stamm. Diese friedliche Stille währte zu meinem Bedauern jedoch nicht allzu lang.
„Jared ist verschwunden", rief Ira voller Panik in der Stimme und lief auf mich zu. Zuerst realisierte ich gar nicht, was er gerade gesagt hatte und starrte einfach weiterhin dümmlich drein.
„Liv", schrie er mich an, schmiss sich vor mir nieder und schüttelte mich an den Schultern, als würde ich dadurch schneller begreifen. „Jared ist verschwunden", hauchte er in mein Gesicht, sodass ich seinen Atmen auf meinen Wangen spüren konnte.

„Das kann nicht sein", antwortete ich. Ira übertrieb sicherlich bloß. „Er musste bestimmt mal."
Ira stand auf und rief Jared's Namen. Immer und immer wieder. Dann hastete er in den Dschungel, kam kurz darauf aber wieder zurück.
„Er ist hier nicht", brüllte er. Auch wenn ich wusste, dass er nicht wütend auf mich war, machte mir sein Verhalten Angst. Und dann schien auch ich zu begreifen. Jared war zum zweiten Mal unauffindbar. Doch jetzt hatten wir uns nicht getrennt, sodass ich den Grund für sein Verschwinden kannte.
Nein, er war einfach weg.

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