Fakt achtunddreißig

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Fakt achtunddreißig: Interessante Personen eröffnen interessante Möglichkeiten.

Schweigend schlugen wir uns durch den Dschungel. Mit jedem weiteren, schmerzenden Schritt fragte ich mich, wie weit es wohl noch sein würde.
Amelie nahm kaum Rücksicht auf mich. Ich glaubte, sie war wütend, weshalb sie mich hinter sich herzog. Verzweifelt klammerte ich mich an meinen Stock und immer wieder trieb der Schmerz mir die Schwärze vor die Augen. Doch mein Willen war stärker und intensiver als je zuvor. Würde ich jetzt Schwäche zeigen, würde sie mir nicht mehr helfen und ich würde Ira und Jared nie wiedersehen. Also riss ich mich zusammen.

„Wie genau ist das eigentlich passiert?", fragte ich. „Also das mit dem Stranden?" Zum Teil war es Neugierde. Zum Teil aber auch, weil ich nicht wollte, dass wir schwiegen.
„Wir sind mit unserem Schiff vom Kurs abgekommen. Es schlug gegen die Felswände und wurde zersplittert. Ein so robustes Schiff ... Wie ein Teller, der auf dem Boden aufkommt." Ihre Stimme nahm einen seltsamen Tonfall an. Ich ging davon aus, dass sie mit ihren Gedanken bei dem Ereignis war. „Wir haben alles versucht, um diese Insel verlassen zu können, doch nichts hat wirklich funktioniert. Einer von uns ist sogar mit einem selbstgebauten Boot rausgefahren."
„Und was ist dann passiert?", fragte ich, neugierig wie ein Kind, welches gebannt an den Lippen des Erzählers hängt.
„Er kam nie zurück", antwortete sie schlicht, als wäre ihre Antwort klar gewesen. War sie vielleicht auch. Ich nickte steif.

„Und wie ist es bei euch gewesen?" Amelie klang desinteressiert, doch ich merkte, dass ihr die Frage wichtig war.
„Hubschrauberabsturz. Im Meer. Ich war ohnmächtig, als es passierte. Aufgewacht bin ich dann am Strand. Aber wie habt ihr es geschafft, Jahrelang unentdeckt zu bleiben?"
Amelie sah mich an. In ihrem Blick lag tiefes Bedauern. „Haben wir nicht. Drei von uns haben sie bekommen, als sie auf der Jagd waren. Davor wussten wir nichts von ihrer Existenz. Wir haben sie gesucht ... Und ... Ach, es spielt ohnehin keine Rolle mehr", sagte sie und schüttelte den Kopf.

„Doch!", protestierte ich. „Das tut es."
„Du willst nicht wissen, was wir gesehen haben", entgegnete sie und scheinbar war das Gespräch dadurch beendet. „Wir sind fast da." Danach schwieg sie.
Mit 'fast da' meinte sie Stunden später. Ich war kurz davor, schlapp zu machen, bis wir vor einem unscheinbaren, dunklen Höhleneingang standen.
„Hier ist es", murmelte sie und sah sich hektisch um. Erst jetzt wurde mir so richtig klar, was sie für mich tat. Die Eingeborenen wussten von ihr und dennoch traute sie sich zurück in den Dschungel.

„Komm schnell." Unsanft zog sie mich in die Höhle hinein. Hier war es so stockdunkel, dass ich nicht einmal mehr meine Hand vor Augen erkennen konnte. Vorsichtig streckte ich meine freie Hand aus und berührte neben mir die Höhlenwand. Sie fühlte sich feucht und kalt an. Überrascht stellte ich fest, dass wir ein paar mal abbogen und ich fragte mich, ob es hier wohl mehrere Richtungen gab. Wie groß war diese Höhle?
Ich hielt mich an Amelie fest und ließ mich von ihr ziehen. Ob sie wohl die Schritte zählte, die von den Wänden widerhallten?
Einen Moment später kniff ich reflexartig die Augen zusammen. Vor uns erhellte ein orangefarbenes, glühendes Licht die Dunkelheit.

„Professor?", fragte Amelie vorsichtig und blieb kurz stehen. Gebannt hielt ich die Luft an. Doch als ich einen Mann hervortreten sah, wusste ich, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Es war jemand, der wohl mein Großvater hätte sein könnte. Seine Haltung war gebückt, sein Haar weiß glänzend und er trug einen sandfarbenen Hut. Er sollte mir helfen können? Gott, wir waren verloren.
„Amelie!", rief er erfreut aus und lächelte. Ich bemerkte, dass ihm ein paar seiner Zähne fehlten. „Und ... du bringst einen Gast mit?" Erstaunt hob er eine Hand und deutete auf mich.
„Ich habe sie gefunden", antwortete sie mit einem bitteren Unterton in der Stimme, so wie man es bei einem Hund sagen würde.

„Ich freue mich, neue Bekanntschaften zu machen", sagte der Professor und reicht mir seine knochige Hand. Ich ergriff sie vorsichtig. „Wie ist dein Name, mein Kind?", fragte er und lächelte aufmunternd. „Und wie bist du auf dieser Insel gelandet? Es kommt nicht oft vor, weißt du?"
Ich zögerte einen Moment, zwang mich dann aber zu sprechen.
„Ich heiße Ol ... äh Liv, Sir. Meine beiden Freunde und ich sind vor ein paar Monaten mit einem Hubschrauber abgestürzt."
Der Professor nickte.

„Und ...", begann ich, biss mir dann aber auf die Zunge. Nein, das wäre unhöflich.
„Sprich nur, Kind", forderte er mich dann auf. Ich schätzte, dann ging das in Ordnung.
„Wie heißen Sie?"
Er lachte kurz auf. „Nenne mich doch einfach 'Professor'", zwinkerte er mir zu.
Zugegeben, er war mir durchaus sympathisch, aber was konnte er bewirken?
„Wo sind deine Freunde jetzt?" Fragend hob er eine Augenbraue.
„Genau darum geht es", antwortete ich und sah mich nach Amelie um. „Die Eingeborenen haben sie."
Mitleid zeichnete plötzlich das Gesicht des Professors.

„Nun, das tut mir sehr leid. Zumindest hast du mit Amelie und mir Gesellschaft gefunden. Du bist willkommen."
Mit jeder weiteren Sekunde wurde ich nervöser. „Das ist ja alles nett und so", redete ich drauflos. „Aber ich brauche sie zurück. Dringend. Amelie meinte, vielleicht könnten Sie mir dabei helfen?"
Als er nichts darauf erwiderte, fügte ich ein klägliches 'Bitte' hinzu.
„Ich fürchte", seufzte er. „Also, ich fürchte, dass das nicht möglich sein wird. Es ist zu spät."
„Das kann nicht sein", weinte ich und klammerte mich unbewusst an Amelie's Hand fest.
„Allerdings könnte ich eine Sache für dich tun." Der Professor schmunzelte. „Ich beobachte sie oft. Deshalb habe ich einst diese Insel betreten. Unter anderem. Aber als sie mein kleines Boot entdeckt haben, haben sie es mir genommen und vermutlich zerstört. Die ganze Insel haben sie nach mir abgesucht, aber glücklicherweise habe ich diese Höhle hier gefunden." Sein Gesichtsausdruck wurde schwärmerisch. „Seitdem lebe ich hier. Kannst du dir das vorstellen?"

Neben mir hörte ich Amelie genervt seufzten.
„Du wolltest etwas für sie tun, Professor", warf sie ein. Es wunderte mich, dass auch sie ihn so nannte. Hatte er etwa keinen Namen?
Verwirrung zeichnete sich in seinem Gesicht ab und er schlug sich lachend gegen die Stirn. „Tut mir leid", sagte er. „Ich schweife gerne ab." Ich nickte. Meinetwegen hätte er mir ruhig mehr erzählen können, doch das hatte Zeit. Jetzt gab es Dinge, die von Wichtigkeit waren. „Wie gesagt, ich beobachte sie gerne. Und eigentlich geht da nie etwas schief." Er warf Amelie, die zu Boden sah, einen Seitenblick zu. Möglicherweise verspürte sie Reue. Jetzt wusste ich auch ungefähr, was vorgefallen war. „Den einen Freund habe ich gesehen. Sie halten ihn gefangen und ich weiß, wo er ist. Noch ist er am Leben. Den Grund kann ich mir nicht erklären. Auf jeden Fall kannst du mit mir mitkommen und ihn noch einmal sehen, um dich auf diese Weise von ihm verabschieden zu können. Mehr wird leider nicht funktionieren."

Ich schluckte schwer und dachte über seine Worte nach. Seitdem er sie ausgesprochen hatte, war mir heiß geworden. Und schwindelig. Doch ich versuchte dieses Gefühl mit gleichmäßigen Atemzügen unter Kontrolle zu bekommen.
Sie zu sehen, ohne ihnen helfen zu können? Könnte ich das ertragen? Der Professor sah mich abwartend an und Amelie nickte.
„Tu es", flüsterte sie. „Es könnte die letzte Gelegenheit sein."
Ich schloss meine Augen, während ich nickte. „Gut. Gehen wir zu ihnen."
Somit willigte ich ein, mich von meinen Freunden im Stillen zu verabschieden. Kampflos aufzugeben.
Doch ich hatte einen Plan.

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