Kapitel 3

13.8K 398 15
                                    

Die nächsten zwei Wochen zogen sich hin wie Gummi. Ich stand auf, arbeitete und schlief. Es entwickelte sich eine gewisse Routine. Mandy scheuchte mich durch die Gegend und schien es sichtlich zu genießen, während ich ihr höflich antwortete und sie gedanklich erwürgte und durch den Aktenvernichter jagte. So dünn, wie sie war, würde sie bestimmt ohne große Probleme dort hindurchgehen. Glücklicherweise begegneten mir weder Jason noch das Ekelpaket, alias Charles. Der einzige Lichtblick zwischen diesen unheimlich spannenden Aktenordnern war der Geburtstag meiner kleinen Schwester Amy. Am Wochenende würde ich sie nach langer Zeit endlich Wiedersehen. Ich hatte sowohl Amy, als auch meine Großmutter vermisst. Voller Vorfreude steuerte ich das nächste Wochenende an.
Samstag:
Piep. Piep. Mein Wecker klingelte. Oh nein! Ich hasste diesen Job. Benommen öffnete ich meine Augen und schaute auf die Uhr. 13 Uhr. Was?! Wie konnte ich schon wieder verschlafen? Erschrocken sprang ich aus dem Bett, verlor gleich das Gleichgewicht und landete mal wieder auf dem Hintern. Naja, Mandy zufolge hatte ich ja genügend Polsterung. Ob ich es zugeben wollte oder nicht, Püppchen hatte meinem Selbstbewusstsein definitiv einen Knick versetzt. Oh, Moment. Welches Selbstbewusstsein? Ich rappelte mich wieder auf und eilte zur Tür, wo ich ihm direkt von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand...
Meinem Kalender. Es war Samstag. Ich war manchmal wirklich schwer von Begriff. In aller Zeit der Welt suchte ich mir Klamotten heraus, sprang unter die Dusche und schminkte mich. Ich liebte diesen Concealer , meine Augenringe waren beinahe unsichtbar. Fertig angezogen und mit einem Geschenk ausgerüstet fuhr ich mit der Bahn zu meiner Familie. Ich besaß zwar einen Führerschein, aber für ein Auto fehlte mir leider das Geld und eine Garage besaß ich ebenfalls nicht. Bei meinem Glück musste ich natürlich an einer Gruppe vorbei, die wohl einen Junggesellenabschied feierte und es seit längerem krachen ließ. Sie hatten eine ekelerregende Bierfahne und betranken sich auch im Zug weiterhin. Okay, Lynn, du gehst jetzt einfach an ihnen vorbei und setzt dich zu dieser ungefährlich aussehenden alten Lady. Ich hatte mich gerade an der Hälfte der Truppe vorbeigemogelt, als mich jemand abtippte. "Ey Süße. N Bier gefällig?" "Nein, danke." Zischte ich. "Bekomm ich wenigstens n Kuss?" Nervte der Kerl weiter. "Das ist mein letzter Tag als freier Mann." Ich sah ihn nur wütend an und machte mich schnell aus dem Staub. "Ist hier noch frei?" Fragte ich die ältere Dame und versuchte zu lächeln. "Sicher," sagte sie. "Machen sie sich nichts aus diesen Idioten. Die haben doch nichts in Kopf." Verwundert, dass eine völlig Fremde versuchte mich aufzuheitern, antwortete ich: "Ja. Wenn das alles nur immer so einfach wäre." Und war dabei schon wieder mit meinen Gedanken bei meinem neuen Job. Diese aufdringlichen Kerle erinnerten mich an Charles. Irgendwie machte mir das alles zu schaffen. "Wissen Sie was, ich glaube? Sie würden sich gut mit meinem Enkel verstehen. Der blickt auch immer so grüblerisch drein. Aber ich bin stolz auf ihn, wie er das alles mit seiner Firma hinbekommt. Wie heißen Sie eigentlich?" Sie schien nett zu sein, also stellte ich mich vor. "Ich bin Lynn. Nett Sie kennenzulernen." "Ich bin Amanda. Sie brauchen definitiv Mal eine Pause. Sie sehen so gestresst aus." Ich wusste nicht warum. Immerhin kannte ich diese Frau gerade einmal fünf Minuten. Dennoch erzählte ich ihr von meinen Problemen mit Püppchen und dem ganzen Stress. Ich ließ lediglich meine verwirrten Gefühle für Jason aus. Sie hörte mir interessiert zu und gab an den richtigen Stellen ein paar tröstliche Worte von sich. Während ich meine Sorgen loswurde, erzählte sie mir von ihrem Enkel, der zu viel arbeitete. Schließlich musste ich aussteigen und ging, nachdem ich mich von Amanda verabschiedet hatte, wesentlich befreiter zum Geburtstag meiner kleinen Schwester. Obwohl ich Amanda gerade einmal eine Stunde kannte, kam es mir vor, als würde ich sie schon mein ganzes Leben kennen. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie mich an Grandma erinnerte. Ich ging die von Bäumen gesäumte Straße hinunter und lauschte dem Vogelzwitschern. Der ganze Trubel aus der Stadt war vergessen. Hier herrschte Ruhe und Frieden. Hier fühlte ich mich zuhause. Ich blieb vor einem großen, weißen Haus stehen, klingelte und die Tür öffnete sich. Ein bellendes Fellknäuel flog mir entgegen und riss mich zu Boden. "Annie! Mann bist du schwer geworden. Ich wuschelte durch ihr braunes Fell und umarmte sie. Ich hab dich vermisste." Ich hatte Annie vor einem Jahr an einer Raststätte im Mülleimer gefunden und nicht anders gekonnt, als sie mitzunehmen. Damals war sie noch ein Welpe, jetzt war sie ein riesiger Schäferhund. Leider waren in meiner Wohnung keine Hunde erlaubt. "Irgendwann wirst du sie mitnehmen können." Lachte meine Oma. Ich rannte ihr entgegen und umarmte sie. "Oma. Ich hab dich vermisst." "Oh, Kind. Behandeln Sie sich beim Verlag nicht gut? Du hast abgenommen." Ich schaute an mir herunter und musste zugeben, dass meine Hose schon einige Falten warf. "Doch. Alles bestens. Sie sind alle total nett und hilfsbereit." Ich konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen. Sie machte sich ohnehin schon genug sorgen um uns. Sie war für uns Mutter, Großmutter und Vater in einer Person. "Wo ist denn Amy?" "Die liegt noch im Bett. Du kennst sie ja." Ich lachte und legte meine Sachen ab. Leise ging ich die Treppe hoch und weckte Amy. "Happy Birthday, du alte Schlafmütze." Sie blinzelte ein paar Mal, ehe sie mich erkannte und umarmte mich beinahe so stürmisch wie Annie. "Lynn. Da bist du ja endlich wieder. Ich hab mir schon Sorgen gemacht." Wir unterhielten uns noch kurz und gingen dann nach unten. Oma hatte ihren berühmten Schokokuchen gebacken, auf den wir uns wie Löwen auf ein Stück Fleisch stürzten. Nachdem alle satt waren, sagte ich: "Zeit für die Geschenke."
Amys Augen leuchteten, aber sie sagte dennoch: "Ihr müsst mir nichts schenken. Besonders du Lynn. Du hast doch so schon so wenig Geld."
Für meine Schwester würde ich mein letztes Hemd geben, nur um sie glücklich zu machen. Also zückte ich das Päckchen und reichte es ihr. Es waren die Stiefeletten, die sie beim letzten Mal, als wir shoppen waren, so schön gefunden hatte, die sie sich aber nicht leisten konnte. "Oh. Lynn. Das ist unglaublich." Mit Freudentränen in den Augen umarmte sie mich. Von Grandma bekam sie ein wunderschönes Kleid für ihren Abiball in 3 Wochen. Sie war überglücklich und grinste noch, als ich abends das Haus verließ. Wenn sie glücklich war, dann war ich es ebenfalls. Meine Oma, Amy und Annie waren die einzigen, die ich noch hatte. Ich wusste nicht, was ich ohne sie tun würde. Bald würde ich Amy noch weniger sehen, da sie anfangen würde zu studieren, aber ich freute mich für sie. Es war wichtig, dass sie etwas aus ihrem Leben machte.

Sonntags hatte ich seit langem noch einmal Zeit einfach drauf los zu malen. Ich konnte meine Gefühle viel besser in Bildern und Wörtern ausdrücken, als sie direkt zuzugeben. Also wurde aus einer leeren Leinwand ein kleines Kunstwerk. Abends schnappte ich mir Schokolade und eine Tüte Chips und machte es mir alleine vor dem Fernsehen bequem. Mir war gerade egal, ob Mandy sagte, mein Hintern sei zu fett. Schokolade hilft gegen jeden Kummer.

Love the Boss or not Where stories live. Discover now