68.

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León

"Wir haben soeben einen anonymen Anruf entgegen genommen, Mr. Vargas", verkündet Nancy nachdem sie umständlich in mein Büro gestolpert ist. Ihr Anblick beunruhigt mich. Sie scheint ein wenig erschrocken, ist leichenblass. "Was ist passiert?", frage ich atemlos und erhebe mich von meinem Stuhl. Panik flackert in ihren Augen auf. "Sie fordern 10 Millionen Dollar. Für die Freigabe von Violetta Castillo." Es dauert einen Moment, bis die Bedeutung ihrer Aussage in meinem Gehirn angelangt. Sogleich wird mir schwarz vor den Augen und ich setze mich zurück auf den Stuhl. Meine Beine verweigern mir ihren Dienst, mein Herz droht in meiner Brust zu explodieren. Alles um mich herum scheint zu verschwimmen. "Rufen Sie die Polizei", fordere ich mit bebender Stimme. "Das ist keine gute Idee. Die Entführer haben dies ausdrücklich verboten." Claire. Das kann nur Claire gewesen sein. Aber wer ist unverfroren genug, ihr dabei zu helfen? "Verstehe." Ich klinge anders als sonst, irgendwie fremd. "Sollen wir Mr. Archer einschalten?" Der Privatdetektiv... Nein, nein, das ist keine gute Idee. Das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. "Überweisen sie das Geld bitte sofort auf das von den Entführern genannte Konto", befehle ich ohne auf ihre Frage zu antworten. Sie widerspricht zwar nicht direkt, doch ihr verblüffter Gesichtsausdruck spricht Bände. "Worauf warten Sie denn noch?" Nancy zuckt vor Schreck zusammen und verlässt eilig das Zimmer. Vollkommen benebelt versuche ich mich wieder aufzurichten. Was wenn Claire Violetta irgendetwas Schlimmes antut? Oder ihr Komplize. "Wie konnte ich bloß so unvorsichtig sein!?", rufe ich unfassbar wütend über meinen eigenen Fehler aus und greife hastig nach meinem iPhone.
"James, wieso haben Sie Violetta nicht zu mir gebracht?"
"Als ich vor dem Block der Miss hielt, war sie nicht anwesend. Ich habe sogar ihre Mitbewohnerin befragt. Ich dachte, sie sei womöglich schon bei Ihnen, Sir."
Ich arme laut hörbar aus. Ich bin so ein hoffnungsloser Idiot. "Ist irgendetwas passiert, Sir?", James' scheint die Ernsthaftigkeit der Situation aus dem Nichts heraus zu begreifen.
"Sie wurde entführt, soll für 10 Millionen Dollar entlassen werden. Ich weiß nicht, wo sie sich zurzeit aufhält, aber es spricht vieles dafür, zunächst in ihrer Wohngegend nachzufragen." Ich versuche die Sorge in meiner Stimme zu verbergen. Es misslingt mir leider.
"Ich bin sofort bei Ihnen, Sir."

James hatte mich tatsächlich binnen weniger Minuten abgeholt und fährt mich nun zum Block, den Violetta gemeinsam mit Miss Ferro bewohnt. Ich hoffe inständig hier irgendwelche Informationen zu ihrem Verschwinden ausfindig zu machen. Das mulmige Gefühl in meiner Magengegend verstärkt sich, als plötzlich mein Finanzberater anruft.
"Sind Sie vollkommen verrückt geworden? Sie wollen allen ernstes 10 Millionen auf das Konto dieser Möchtegern-Verbrecher überweisen? Wir haben die Daten überprüft und ein solches Konto existiert offiziell überhaupt nicht!"
"Es ist mir vollkommen gleich. Hauptsache die beiden haben das Geld und lassen Violetta frei", gebe ich so gefasst wie möglich von mir und richte meinen Blick starr aus dem Fenster. Nun dauert es nicht mehr lange, bis wir ankommen.
"Das ist eine unüberdachte, zudem voreilig getroffene Entscheidung. Man sollte zunächst eine Beratung einberufen."
"Das kommt nicht in Frage; bis wir das Ganze geklärt hätten, wäre es womöglich zu spät!"
Mein Finanzberater schnaubt: "Das sind doch lediglich leere Drohungen. Sie wollen nur Ihr Geld!"
"Richtig, sie wollen mein Geld. Nicht Ihres. Aus diesem Grund würde ich Sie herzlichst bitten, sich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten. Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen." Ohne irgendein weiteres Wort lege ich auf. Meine Hände zittern vor Anspannung und Nervosität. Wenn ich mir nur vorstelle, was mit Violetta gerade geschehen könnte, wird mir ganz anders. Ich wollte ihr nach all den schrecklichen Ereignissen aus ihrer Kindheit grenzenlose Sicherheit bieten - stattdessen gefährde ich sie mit meiner misslungenen Vergangenheit. "Könnte ich Ihnen etwas sagen?", mischt sich plötzlich James ein. Überrascht von seiner ungewöhnlichen Frage, antworte ich: "Ja, natürlich können Sie das." Er räuspert sich hörbar, bevor er das Wort ergreift. "Sie haben meine vollste Unterstützung und Hochachtung. Nur wenige Männer ihrer Position würden so reagieren." Unschlüssig, was ich darauf erwidern könnte, flüstere ich ein leises "Danke" und starre auf meine Hände. Ich verstehe nicht, weshalb man so etwas nicht tun würde - für einen Menschen, den man liebt. Was ist daran so ungewöhnlich? Im Gegensatz zu Violetta hat das Geld doch überhaupt keinen Wert. Ich würde lieber alles weggeben, statt ohne sie leben zu müssen.

"Und Sie sind sich sicher, dass Sie Miss Castillo heute noch nicht gesehen haben?", frage ich den Rezeptionisten in der Lobby, der bedauernd den Kopf schüttelt. "Ich muss in diesem Moment beschäftigt gewesen sein. Normalerweise fällt sie mir auf, da sie immer grüßt. Heute habe ich kein Wort mit ihr gewechselt." Scheiße. Schon wieder eine falsche Spur. Als ich gerade das Gebäude wieder verlassen möchte, erblicke ich Diego, der aus einem der Aufzüge tritt. Finster dreinblickend taxiert er mich. Das zwischen uns wird wohl niemals mehr als Feindseligkeit. Doch in der Not ergreift man jeden Rettungsring, den man zu fassen bekommt. "Diego", rufe ich laut aus, worauf der Mann zögernd stehen bleibt. "Hast du Violetta heute gesehen?" Ich möchte die Sache am liebsten sofort auf den Punkt bringen. Er sieht mich misstrauisch an: "Ich wüsste nicht was dich das anginge." Jetzt ist nicht die richtige Zeit für einen Schlagabtausch! "Sie wurde entführt." Das Blut entweicht aus seinem Gesicht. "Um Gottes Willen." "Aus diesem Grund benötige ich jede Information, die es gibt." Er nickt verständnisvoll. Na also, geht doch. "Ich habe sie heute Mittag vor dem Block getroffen und ein bisschen mit ihr geplaudert. Sie schien auf jemanden zu warten. Als ich mich dann entfernte, stieg sie in einen schwarzen Mercedes."
Ich schlage mir mit der offenen Hand gegen die Stirn. Das ist es!
"Konnte ich irgendwie weiterhelfen? Weiß man wo sie ist? Was wollen die Entführer damit bezwecken? Geht es ihr gut?" Ich achte nicht mehr auf seine Fragen, gehe stattdessen den Verlauf der Entführung durch.
"Es muss sich folgendermaßen ereignet haben", beginne ich konzentriert und blicke Diego durchdringend an. Ich merke, dass er kaum wagt zu atmen, während ich spreche.
"Sie erwartete James, stieg deshalb in den ihr unbekannten Mercedes, als dieser vor ihr hielt. Sie weiß, dass ich viele verschiedenen Autos habe und hielt es daher für möglich, dass James sie einmal nicht wie gewohnt mit dem R8 abholte, sondern mit einem anderen. Als sie sich dann darin niederließ, war es bereits zu spät."

León kommt der Sache allmählich näher...doch was ist mit der Kaution? Wird ihm seine Bank die Überweisung überhaupt genehmigen? Das sind schließlich 10 Mio Dollar! -> next Story

Ily ❤

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