36.

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León

"Mr. Archer ist eben eingetroffen", verkündet Nancy und tritt in mein Büro. "Lassen Sie ihn bitte herein", ich bedenke sie mit einem leichten Lächeln, das sie sofort erröten lässt. Ich lehne mich gebieterisch in meinem Drehstuhl zurück und lasse meinen Blick durch das gesamte Zimmer schweifen. Das alles gehört mir. Das alles habe ich mir eigenständig erarbeitet. Und nun gehört auch Violetta mir. Sie hat sich mir vollständig offenbart, das zeugt von enormen Vertrauen. "Mr. Vargas?", Miles Archer, groß gewachsen, mittelalt mit braunen Haaren, betritt mein Büro. Wie es sich gehört, stehe ich auf und gehe auf den Privatdetektiv zu. "Guten Abend, Mr. Archer. Schön, dass sie sich Zeit genommen haben", verkünde ich freundlich und reiche ihm meine Hand. Miles ergreift sie und antwortet: "Nichts zu danken. Schließlich umfassen derartige Gespräche meinen Arbeitsbereich." Ohne weiteres deute ich auf den Schreibtisch, um ihm zu signalisieren, sich niederzulassen. Er nickt ernst und lässt sich auf einem Sessel nieder, während ich meinen Drehstuhl ansteuere und es mir darin bequem mache. Sofort beginnt Archer mit seinem Bericht. "Sie baten mich, das Leben des Christopher Carter gründlich zu untersuchen. In dieser Mappe habe ich wirklich alles, was es zu ihm zu erzählen gibt", er nimmt eine dunkelblaue Mappe aus seiner Aktentasche und legt sie auf den Schreibtisch. Ich beobachte ihn dabei wortlos und stütze meine Ellenbogen auf dem Holz ab, um besser sehen zu knnen. Er kramt eine der vielen bedruckten Seiten hervor und beginnt zu lesen. "Christopher Nathaniel Carter wurde am 02. November 1986 in einem Londoner Krankenhaus geboren." "Nathaniel?", wiederhole ich verständnislos. "Das ist sein zweiter Name, der nebenbei bemerkt, wahrscheinlich von seinem Großvater stammt, der ebenfalls Nathaniel Carter hieß." Nathaniel also... Der Mann fährt fort: "Christopher wurde als Einzelkind von seiner Mutter Mariana Carter erzogen. Sein Vater Clark Carter arbeitete zu dieser Zeit im Ausland und war nie zu Hause anzutreffen. Schließlich erfuhren die beiden, dass er dort ein Doppelleben führte. Mit einer anderen Frau und zwei Töchtern. Zu dieser Zeit war Christopher 16 Jahre alt. Keinen Monat später brachte sich Mrs. Carter mithilfe von Schlaftabletten um. Der Junge sollte aus diesem Grund in einem Kinderheim untergebracht werden, da sein Vater aber von Gewissensbissen geplagt wurde, schenkte er Christopher ein kleines Haus am Rande der Stadt, wo er letztendlich auf eigene Faust einzog." "Ist das möglich?", frage ich verblüfft und mustere Miles genaustens. "Ja, ich habe mich diesbezüglich informiert. Wenn ein Erzeihungsberechtigter seinem 16 jährigen Kind die Erlaubnis allein zu wohnen gibt, ist es vollkommen legal. Auerdem wohnte seine Gromutter Nelly Carter nicht sehr weit entfernt, sodass sie sich immer wieder seines Wohlbefindens vergewissern konnte." Er hatte also keine schöne Vergangenheit... "Wenn Sie das bereits teilweise unschön fanden, wird es jetzt noch um einiges pikanter", warnt Mr. Archer mit einem durchdringenden Blick in meine Richtung. Ich weiß ganz genau, was nun folgt. Violettas Vergewaltigung/en. Die Erlebnisse, die ihr Leben zerstört haben. "Im Alter von 18 Jahren vergewaltigte er seine Nachbarin, die damals 13 Jahre alt gewesen ist. So viel ich weiß, sollte er ein Auge auf sie werfen, da ihre Mutter geschäftlich verreisen musste. Der Name des Mädchens lautet Violetta Castillo, falls er Ihnen irgendetwas sagt." Er bestimmt mein gesamtes Leben. Zwei kleine Worte, die mich für immer in ihren Bann gezogen haben. "Es blieb nicht bei einer Vergewaltigung. Die genaue Zahl habe ich nicht herausgefunden, doch meinen Berechnungen nach, konnten es um die 45 Mal gewesen sein." 45 Mal?! Verdammte scheiße! Ich versuche die Wut, die sich in meinem Inneren aufbaut, mit aller Kraft zu unterdrücken. Wenn ich diesem Mann jemals über den Weg laufen sollte, komme wahrscheinlich schlussendich ich ins Gefängnis. Das wäre es mir aber sicherlich wert. "Fahren Sie fort", bitte ich mit zusammengepressten Zähnen und sehe zu Miles. Er nimmt ein anderes Blatt und liest weiter: "Meinen Recherchen nach, erwischte eine andere Nachbarin Christopher dabei und rief Polizei und Krankenwagen. Carter flüchtete, wurde aber schon kurz darauf fest genommen. Das Mädchen -Violetta- wurde in die Klinik gebracht und behandelt. Offenbar erlitt sie enorme psychische Schäden, die sie beim Psychologen langjährig behandelt werden musste." Das ist mir bekannt...ich möchte mehr über den gestörten Kerl erfahren, der meine Freundin so zugerichtet hat. "Wie ging es weiter mit Carter?", hake ich schon fast ungeduldig nach. "Carter...", er gähnt leise. "Enschuldigen Sie. Carter kam in ein Gefängnis und saß seine Strafe ab." "Was bedeutet 'saß'?", frage ich irritiert. Violetta meinte doch, dass er immer noch im Knast säße... "Nun, am gestrigen Tage wurde er entlassen", antwortet Miles als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Mir bleibt der Mund offen stehen. Violetta hat mich also belogen, als sie meinte, er würde noch ein paar Järchen absitzen. Das wird sie mir persnlich erklären müssen... "Mr. Archer, vielen Dank für ihr Engagement. Das werde ich Ihnen bei der Bezahlung hoch anrechnen. Aber nun muss ich los. Ein wichtiger Geschäftstermin erwartet mich bereits."

Nachdem Mr. Archer mein Büro verlassen hat, nehme auch ich meine Aktentasche und schließe das Zimmer hinter mir ab. Überraschenderweise sitzt Nancy immer noch an der Rezeption und scheint vertieft in ihre Arbeit. Ich lehne mich an den Tresen und räuspere mich hörbar. Sofort zuckt meine Sekretärin vor Schreck zusammen und sieht mich mit großen Augen an. Ach Gott... "Weshalb sind Sie noch hier, Nancy? Sie haben doch längst Feierabend...", frage ich stirnrunzelnd. Sie errötet und beißt sich nervös auf die Unterlippe. "Ich...hatte noch ein paar Dinge zu erledigen und..." Mit einem Handzeichen unterbreche ich ihre Erklärungen. "Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, eine solch eifrige Angestellte zu haben, doch ich möchte nicht, dass Sie sich hier bis spät in die Nacht abmühen, um irgendwelche Dinge zu erledigen. Das können Sie auch morgen tun. Nun gehen Sie nach Hause und konzentrieren sich auf ihr Privatleben...das scheint bei so viel Arbeit doch vollkommen auf der Strecke zu bleiben." Sie blickt mich überrascht an und seufzt: "Sie haben wahrscheinlich Recht. Ich werde mich gleich auf den Nachhauseweg machen..." "Sehr gut", lobe ich lächelnd. "Ich muss nun los. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Abend". Mit diesen Worten begebe ich mich zum Fahrstuhl und sinke darin geschafft gegen die Wand. Was ist bloß mit mir los? Nancy schien total verblüfft über meinen plötzlichen Imagewechsel...Noch nie zuvor habe ich mich so freundlich gegenüber meinen Angestellten verhalten. Das ist eine vollkommen neue Erfahrung für einen knallharten Geschäftsmann wie mich...

Love me harderWhere stories live. Discover now