58.

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Violetta

Als ich an Leóns Apartmenttür zum Stehen komme, denke ich ernsthaft darüber nach, wieder zu gehen. Vielleicht ist er ja sehr beschäftigt? Oder er möchte noch ein bisschen gemeinsame Zeit mit seiner Schwester verbringen, bevor sie abreist? Ich hätte wirklich anrufen müssen, anstatt hier einfach so aufzutauchen. Andererseits ist er mein Freund, vielleicht sogar noch mehr als das, sodass ich einen Besuch doch nicht ankündigen muss, oder? Er kann mich ja wieder wegschicken, wenn er noch etwas wichtiges erledigen muss... Mit gemischten Gefühlen klopfe ich an und gehe nochmals das Sortiment an Möglichkeiten durch, die ihn beschäftigen könnten. Na ja, möglicherweise ist er wütend auf mich, weil ich ihn so bedränge. Bei diesem Gedanken schnürt sich mir die Kehle zu. Ich will ihn keinesfalls zu irgendetwas zwingen! Wenn er sich mir öffnet, dann möchte ich dass er es freiwillig tut, und nicht weil ich das von ihm erwarte. "Violetta?" Mir ist gar nicht aufgefallen, dass die Tür sich bereits geöffnet hat. Naty lächelt mich halbherzig an. "Hallo", erwidere ich sogleich und räuspere mich nervös. "Ist León da?" Sie nickt zustimmend: "Ja, das ist er. Habt ihr euch zufällig gestritten? Er ist seit ein paar Stunden so anders, deprimiert irgendwie." Seit ein paar Stunden? Haben wir uns nicht gestern zuletzt gesehen? "Na ja, als Streit würde ich das nicht bezeichnen...aber seit wann genau ist er denn so?" Sie zuckt die Schultern. "Seit ich heute zurückgekommen bin. Gestern Abend war alles noch okay, wir haben zusammen gegessen und einen Film angesehen... Erst jetzt ist er vollkommen neben der Spur. Womöglich schaffst du es ja, ihn zu besänftigen." Ich schlucke scharf. Was kann bloß mit ihm passiert sein? Sie hält mir lächelnd die Tür auf, und ich trete zögernd ein. Bestimmt lässt sich das alles total easy erklären...hoffentlich. "Er ist im Wohnzimmer", fügt Natalia wohlwollend hinzu und verschwindet aus meinem Blickfeld. Auf zitternden Knien mache ich mich auf den Weg in das helle, geräumige Zimmer und werde mit jedem weiteren Schritt unsicherer. Was wenn es wirklich an mir liegt? Wenn er wütend auf mich ist und mich rauswirft?

Sofort erblicke ich ihn. Das Gesicht in die Hände gestützt bietet er wirklich das blanke Bild von Trauer. Als ich ein wenig näher komme, hebt er den Kopf und mustert mich abwesend aus seinem wunderschönen, grünen Augen. Der altbekannte Glanz ist glücklicherweise nicht verschwunden. Er freut sich darüber mich hier zu sehen. Gott sei Dank. "Hey", flüstere ich mit erstickter Stimme und setze mich direkt neben ihn. Was ich sagen könnte, weiß ich nicht. Falls meine Nähe jedoch wenigstens ein bisschen so tröstlich auf ihn wirkt, wie seine auf mich, wird ihm das sicherlich helfen. "Ich freue mich, dass du hier bist", antwortet er vollkommen ehrlich und vergräbt sein Gesicht wieder in den Händen. Es tötet mich praktisch ihn auf diese Weise erleben zu müssen. Ich habe keinerlei Ahnung wie ich ihm helfen könnte... "Was ist passiert? Liegt es an unserem gestrigen Gespräch?", möchte ich leise wissen und riskiere einen kurzen Blick auf ihn. Ich glaube nicht, dass er ihn überhaupt wahrnimmt. "Nein, Violetta. In dieser Hinsicht hast du einfach komplett recht. Aber du darfst nicht denken, ich hätte kein Vertrauen in dich...Ich bringe es nur nicht fertig über dieses Thema zu sprechen. Es tut so verdammt weh." Ich versuche ihn zu verstehen. Er vertraut mir schließlich. Ich werde genauso auf ihn warten müssen, wie er auf mich gewartet hat. So ist es nun mal. "Und weshalb bist du so niedergeschlagen?", nur mit großer Überwindung wage ich es meine Hand auf seinen Rücken zu legen. Er lässt mich gewähren. Schlussendlich hebt er wieder den Kopf und sieht mir geradewegs in die Augen. Die Intensität seines Blickes raubt mir schier den gesunden Verstand. "Die Vergangenheit holt mich ein, Violetta. Und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich damit umgehen soll." Geschafft seufzt er auf. Ich greife nach seiner Hand und drücke sie aufmunternd. "Ich bin mir sicher, dass wir beide es zusammen meistern können...wenn du mich lässt." "Es ist so, dass..." "León! Mom will unbedingt mit dir sprechen!", ruft Naty plötzlich enthusiastisch und León springt auf. Frustriert fahre ich mir durch die Haare. Er war wirklich kurz davor es mir zu sagen, verdammt nochmal. Ich erhebe mich ebenfalls von der Couch - mit dem Vorhaben nach Hause zu gehen. Jetzt werde ich es sicherlich nicht mehr erfahren. Doch bevor ich an meinem Freund vorbeistolzieren kann, spüre ich seine sanften Hände an meinen Handgelenken. "Warte", wispert er kaum hörbar und dreht mich zu sich. Zwischen unseren Gesichtern liegen läppische Millimeter. Ich spüre das vertraute Kinstern, die mir wohlbekannte Spannung und muss mich zusammenreißen um nicht in seinen Augen zu versinken, der Versuchung ihn zu küssen zu widerstehen. "Lass es zu." Andächtig lausche ich seinen von Verheißung gefüllten Worten und bringe keinen Laut über die Lippen. Dieser Moment ist viel zu kostbar. Keine Sekunde später spüre ich, wie er seinen Mund zärtlich auf meinen drückt. Am liebsten würde ich die Zeit anhalten. Die Sanftheit des Kusses für immer in Erinnerung behalten. Er küsst mich so, als wäre ich zerbrechlich, als wäre ich das Kostbarste auf dieser Welt... Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich spüre wie mir das Blut in den Ohren rauscht. Ich liebe ihn, ich liebe ihn so sehr. Erst als wir uns lösen kann ich wieder richtig Luft holen, sodass meine Lunge wie gewohnt arbeiten kann. Er lehnt seine Stirn gegen die meine und seufzt lautstark auf. "Violetta, du wirst alles erfahren, wirklich alles. Aber du musst dich gedulden, musst auf mich warten. Außerdem möchte ich verhindern, dass meine Vergangenheit einen Keil zwischen uns treibt. Kannst du das nachvollziehen?", seine Stimme klingt als könnte sie im nächsten Moment brechen. Mein Herzschlag kann sich immer noch nicht beruhigen, aber mein Verstand rät mir zu warten. Aus Liebe. "Ja, ich verstehe." Erleichtert atmet er aus und lässt mich los. "Ich rufe oder schreibe dich später noch an."

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