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Violetta

"Ich lernte Claire bereits in der 5. Klasse kennen. Damals lebte ich mit meiner Familie noch in Manhattan, New York. Zu dem Zeitpunkt war sie natürlich nichts besonderes für mich gewesen... Erst im Laufe der 9. Klasse machte irgendetwas in mir 'Klick'. Ich sah sie plötzlich mit anderen Augen. Früher waren wir lediglich befreundet, wohingegen ich später kaum aufhören konnte, an sie zu denken." Missbilligend schüttelt er den Kopf und fährt mit fester Stimme fort. "Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und lud sie auf ein Date ein. Ich war außer mir vor Freude, als sie einwilligte, das kannst du dir gar nicht vorstellen." Ich bin ehrlich gesagt zutiefst überrascht; ich hätte niemals geglaubt, dass León einmal ein schüchterner Typ gewesen war, was seine Zurückhaltung gegenüber Claire bezeugt. "Es lief sehr gut zwischen uns. Wir hatten Gesprächsthemen ohne Ende. Sie träumte davon Model zu werden, während ich schon immer eine Führungsposition erstrebte. Wie du siehst, haben wir beide unsere Ziele erreicht." Claire ist also tatsächlich Model? "Einige Monate nachdem wir zusammenkamen, starb mein Vater." Er legt eine kurze Pause ein, wahrscheinlich um seine bestechende Neutralität zu bewahren. Der Tod seines geliebten Vaters ist kontinuierlich ein unabgeschlossenes Thema für ihn. Tröstend greife ich nach seiner Hand, was er mit einem schiefen Lächeln quittiert und weiter erzählt. "Mom war komplett am Boden, rund um die Uhr auf psychologische Hilfe angewiesen... Naty und ich waren vollkommen auf uns allein gestellt. Und das im Alter von ungefähr 15 Jahren. Sie war zu dem Zeitpunkt 12, wenn ich mich nicht irre. Ich hab's nicht so mit Geburtstagen, weißt du?", erklärt er entschuldigend und räuspert sich. Ich bin viel zu neugierig um irgendetwas zu sagen und hänge gebannt an seinen schönen Lippen. "Ich habe dir schon mal erzählt, dass Naty und ich uns erst in dieser grässlichen Zeit näher gekommen sind, nicht?" "Das ist richtig. Auf dem Boot damals", antworte ich sofort wie aus der Pistole geschossen und muss breit lächeln, wenn ich nur an diesen wunderschönen Nachmittag denke. "Du meinst natürlich 'Stacey'", korrigiert er mich gespielt beleidigt und atmet langsam aus. Der folgende Teil wird also voraussichtlich nicht besser. "Claire war ebenfalls ein Rettungsanker. Ohne Natalia und sie wäre ich sicherlich durchgedreht. Ich hatte ein unglaublich gutes Verhältnis zu meinem Vater und konnte kaum mit dem Gedanken, ihn für immer verloren zu haben, leben." Verständnisvoll nicke ich. Wenn ich mir nur vorstelle, meine Mutter könnte plötzlich versterben, wird mir ganz anders. Ein wirklich unzulässiger Gedanke. "Claire stand mir die ganze Zeit über zur Seite. Verließ mich für keine Sekunde. Als Mom dann endlich von ihrer monatelangen Therapie nach Hause zurückkehrte, war alles praktisch genauso wie früher. Wir lebten unser Leben weiter - lediglich ohne Dad." Seine Schilderungen zerreißen mir das Herz. Es musste schrecklich für alle Beteiligten gewesen sein... "Warte, hat deine Mom dich ernsthaft mit deiner kleinen Schwester allein gelassen?" "Nein, unsere Großmutter lebte zu der Zeit bei uns und kümmerte sich um alles. Sie war ebenfalls eine großartige Person, die mir mein Leben rettete." In seiner Stimme schwingt bedrückende Trauer mit. "Ist sie schon...?", ich bringe den Satz mit Absicht nicht zu Ende. Er wird schon wissen, was ich damit meine. "Nein, sie lebt in einem Heim. Leidet an schrecklichem Gedächtnisschwund. Erkennt manchmal ihre eigenen Familienmitglieder nicht." Um Gottes Willen...Leóns Familie wird offenbar vom Pech verfolgt. Ich weiß gar nicht richtig, wie ich mich verhalten soll. Es besteht schließlich die Möglichkeit, ich könne etwas falsches sagen. "Aber um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen: Ich war so sehr in Claire verliebt, dass ich ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Ich war es ihr schuldig. Ich liebte sie von ganzen Herzen, mit Leib und Seele. Verstehst du jetzt, weshalb ich 'Liebe' für überbewertet ansehe? Liebe ist nichts wert!" Das erklärt natürlich seine Zurückhaltung. Am liebsten würde ich mich selbst ohrfeigen. "Ich habe ihr einen Antrag gemacht...total romantisch, mit Rosenblättern und allem was dazu gehört...", er legt sein Gesicht seine Hände. Ich verspüre einen leichten Stich. Würde ich wollen, dass er mir einen Antrag macht? "Als sie 'Ja' sagte, bin ich vor Glück beinahe gestorben. Ich hatte mir unsere Zukunft schon tausende Male ausgemalt. Die Hochzeit, dann eine gemeinsame Wohnung, Kinder...", seine Stimme bricht. Oh Gott, er wollte Kinder mit ihr. "Tja, noch in derselben Woche erwischte ich sie mit meinem besten Freund Andrew im Bett." Schockiert halte ich den Atem an. Sie hat ihn mit seinem besten Freund betrogen? Wie schrecklich! "Aber sie hatte deinen Antrag doch bejaht!", rufe ich ungläubig ein. Er nickt: "Ich weiß." Das ist ja grausam... "Sie hatte mir bereits vor langer Zeit ihren Wohnungsschlüssel gegeben... Als ich einmal von der Schule Heim ging, nahm ich einen anderen Weg, um an ihrem Haus vorbei zu kommen. Ursprünglich hatte ich gar nicht die Absicht sie zu besuchen. Als ich jedoch Andrew's Wagen in ihrer Einfahrt bemerkte, änderte ich meine Pläne. Den Rest kannst du dir natürlich denken...", seine Stimme bebt, er wendet den Blick von mir ab. Ich weiß komplett nicht was ich sagen könnte. Die Skrupellosigkeit dieser Frau entwaffnet mich. Ich persönlich sehe andere Männer kaum noch an, seit ich mit León zusammen bin. "Somit habe ich nicht nur die 'Liebe meines Lebens' sondern auch meinen engsten Freund verloren. Mir wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Ich war zerstört." Er lacht ironisch auf. "Das Arschloch meinte dann noch, ich hätte so etwas Wunderbares wie Claire nicht verdient." "Nein", wispere ich fassungslos. "Doch", erwidert León mit einem finsteren Gesichtsausdruck. "Claire hingegen versuchte mir alles zu erklären, ich ließ sie nicht. Zog kurzerhand nach Los Angeles um mich zu distanzieren, den Scheiß hinter mir zu lassen. Dann begann ich zu Arbeiten. Ich arbeitete von morgens bis abends, ohne Pause. Erinnerst du dich noch an Mandy aus meinem Restaurant? Ich habe mich mit ihr angefreundet...wir waren beide genauso verletzt, wollten es aber vor der ganzen Welt verstecken..." "Was war denn mit ihr?", frage ich vorsichtig und hole tief Luft. "Ihre Mutter war eine Prostituierte und ließ Mandy des öfteren für sie einspringen." Mir wird schwarz vor den Augen. Wie kann eine Mutter so etwas tun? "Oh mein Gott." "Genau, Violetta", seufzt er schmerzerfüllt. "Wir haben irgendwie zueinander gefunden und halfen uns gegenseitig. Sie verfügte über eine große Summe Geld, und investierte all das in meinen Erfolg. Das Geld stammte von ihrem Mann, der sie zur Frau nahm, um sie aus der Prostitution zu befreien. Leider verstarb er relativ schnell und sie wurde alleinige Erbin seines Vermögens. Geliebt hatte sie ihn natürlich nicht, in ihrem Falle existiert Liebe auch nicht..." Ich muss all das erst mal auf mich wirken lassen, bevor ich etwas frage: "Hattet ihr mal etwas miteinander?" Ich musste diese Frage einfach stellen. Ausdruckslos sieht er mich an: "Nein, ich hätte sie niemals angerührt. Sie war mir viel zu wichtig."

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Endlich packt León mit der ganzen Wahrheit aus. Gefällt euch die Geschichte, die ich mir zu León ausgedacht habe? Ich habe wirklich versucht, alles möglichst realistisch und sinnvoll zu formulieren...Bekundet mir mal eure Meinung in den Kommentaren. ❤Ily

Love me harderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt