Unlike me...

3.6K 128 18
                                    

Ich hatte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, ein gewisses Geheimnis vor anderen geheimzuhalten und sich unauffällig zu benehmen.

Das Frühstück am nächsten Morgen fand relativ spät statt, da die Spieler alle ausschlafen sollten. Diese Gelegenheit ließen sie sich natürlich nicht entgehen und pennten bis zur Mittagszeiten.

Unlike me.
Natürlich.
Ich saß bereits um halb acht Uhr morgens auf dem Balkon und kaute auf den Fingernägeln. Und ja, diese ganze Geheimniskrämerei, das Versteckspiel und die Lügen machen mich fertig.

Streng genommen bin ich kein Hotelgast, da ich kein Zimmer besitze, und habe somit eigentlich keinerlei Anspruch auf das Frühstücksbuffet. Allerdings ignorieren mein Bruder und ich diese Tatsache gefließentlich und er beschloss, mich einfach in den Speiseraum hineinzulotsen, als würde ich hinzugehören.

Das funktioniert bis jetzt eigentlich sehr gut. Ich sitze zusammen mit Muni, Ramirez, Sergi und Marc auf einem der Essenstische und schiebe das Ei Benedict - höflich aber etwas lustlos - auf dem Teller herum.
Wir reden gedämpft, machen Witze, alles locker - bis Neymar und seine Horde an Brazukas auftauchen und beinahe die Scharade zunichte machen.

Zuerst begrüßt mich Dani äußerst gut gelaunt und Rafinha kann es nicht lassen, Neymar immer wieder eindeutige Blicke und kurze Rippenstöße zu verpassen. Ich würde darauf schwören, dass selbst Neymar seinen Kumpel erwürgen könnte.

Und als ich mir noch ein Brötchen am Buffet holen will, sehe ich mich Neymar plötzlich direkt gegenüber.
Die Begegnung könnte nicht komischer verlaufen. Als er plötzlich neben mir steht, fahre ich zusamme und schubse dabei Marc, der sein Teller um ein Haar fallen lässt.
Einen Moment später greifen wir - oh, wie klischeehaft - gleichzeitig zu den Brötchen, woraufhin wir beide auseinanderzucken.
Ich werfe einen angespannten Blick über die Schulter und halte nach Munir Ausschau, der zum Glück mit dem Rücken zu uns sitzt.

"So geht das nicht weiter...", zische ich gepresst in Neymars Richtung, ohne ihm zu nahe zu kommen.
"Da sind wir uns also einig?", murmelt Neymar gedämpft zurück und legt ein Brötchen auf sein und eines auf mein Teller.
"Wieso müssen wir uns auch ständig über den Weg laufen?", beschwere ich mich und Neymar wirft mir einen kurzen Blick zu.
Irre ich mich, oder wirkt er wirklich genervt?
"Hey, ich hab Hunger, desculpa.", verteidigt er sich leise. "Das hab ich doch gar nicht..." "Wie auch immer..."
Mit diesen Worten nimmt er seinen Teller und geht zurück zu seinem Platz.
Irritiert sehe ich ihm hinterher, bis ich merke, wie auffällig ich mich benehme.
Beschämt trolle ich mich also zurück auf meinen Tisch und fahre damit fort, die anderen zu ignorieren.
Mir ist der Appetit nun endgültig vergangen...

Da das Spiel erst um halb sieben Uhr abends angepfiffen wird, fährt der Bus zum Stadion um halb fünf.
Und die passende Gelegenheit, mit Neymar über den Zwischenfall morgens zu reden, kommt nicht.
Da ich die ganze Zeit bei Munir rumhänge, hab ich keine Gelegenheit und auch keinen plausiblen Grund mich davonzustehlen.
Erst als mein Bruder beschließt, den Coach zu fragen, ob ich im Teambus mit zum Stadion fahren dürfe (eine Extra-Ausnahme so nebenbei), bietet sich eine Chance an, aber dummerweise taucht Neymar erst dann vor dem Hotel auf, als Munir schon zurück ist.
"Geht klar, du kannst mitfahren. Aber du brauchst eine VIP-Karte.", informiert mich Munir, als wir in den Bus einsteigen und hängt mir eine laminierte Card an einem bunten Band um den Hals.
Grinsend hebe ich sie hoch. "Na endlich, die lang ersehnte VIP-Card. Hätte mir eine Menge Ärger erspart, das Ding...", scherze ich und erinnere dabei an die Male, an denen ich an den Securities beim Barca-Training vorbeikommen wollte.
Plötzlich ein bekanntes Lachen vor uns.
"Ja, zum Beispiel, als du über die Absperrung direkt aufs Trainingsfeld geklettert bist."
Mein Kopf saust herum und ich werfe Neymar vor uns einen mehr als scharfen Blick zu.
Neymar mimt den Unbeteiligten, aber in seinen Augen kann ich den Schalk aufblitzen sehen.
Sei vorsichtig...
Munir grinst kopfschüttelnd. "Du bist was?" Ich öffne schon den Mund, doch Neymar fällt mir ins Wort.
"Hat mir Claudio erzählt.", murmelt er schulterzuckend und ich kaue nervös auf der Unterlippe.
Dünnes Eis, Neymar, sehr dünnes Eis...
Endlich löst sich das Gedrängel etwas und wir können in den Teambus einsteigen.
Um einem gefährlichem Gespräch mit Munir zu entgehen, suche ich einen abgeschiedenen Platz am Fenster in einer Sitzreihe nur für mich und beschließe, in Ruhe nachzudenken.
Es ist offensichtlich, dass Neymar sauer ist und ich kann mir auch gut vorstellen, wieso. Diese ganzen Verleumdungen gehen ihm genauso auf den Zeiger wie mir.
Nur hab ich leider keine andere Wahl...
Er scheint das nicht ganz zu kapieren. Absolut kein Grund, jetzt Sabotage zu betreiben und Munir langsam auf die Spur zu bringen. Was für eine miese Nummer...
In dem Moment schwingt sich Neymars snapback-tragende Gestalt aus heiterem Himmel neben mich auf den Sitz und ich starre ihn erneut ungläubig an.
Neymar starrt unverwandt und auch irgendwie herausfordernd aus seinen braungrünen Augen zurück.
"Was machst du da?!", zische ich angespannt und blinzele zwischen den Sitzreihen hindurch, um Munirs Reaktion zu beobachten.
"Meu Deus... Entspann dich, ja? Raf lenkt deinen Bruder ab.", keift Neymar in genervtem Tonfall zurück.
Und da sehe ich den Brasilianer, der bei Munir und Sandro steht und ihnen scheinbar irgendein Video zeigen will, da er Munir seine Beats in die Hand drückt.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
"Hast du ihm das gesagt?" "Claro, sonst könnte ich ja wohl nicht hier neben dir sitzen, oder doch?", fragt er und ich rolle mit den Augen.
"Komm, sei nicht sauer... Du weißt, warum Munir nichts von uns erfahren darf.", versuche ich ihn zu besänftigen
"Nein. Eigentlich weiß ich das nicht.", lacht Neymar grimmig und schüttelt den Kopf.
"Du hast es mir nämlich nicht erzählt. Nur, dass es etwas mit deinen Eltern zu tun hat."
"Glaub mir.", seufze ich und starre hinunter auf den Bussitz. "Unter diesen Umständen ist das mehr als du wissen musst."
"Wieso bist du so stur?", knurrt Neymar. "Und wieso du so nervig?" "Touché.", kontert der Brasilianer schlagfertig und ich blinzele überrascht. Vor ein paar Wochen hatte ich das Wort benutzt und er wusste nichtmal, was es bedeutet.
Neymar grinst selbstgefällig. "Was? Kein Kommentar? Hast du deine Zunge verschluckt?", fragt er neckend.
Dasselbe hat er schon damals gefragt, als ich ihm im Camp Nou über den Weg gelaufen bin, obwohl ich ihm eigentlich aus dem Weg gehen wollte.
Und wohin das Gespräch dann geführt hat, ist klar.
Im nächsten Augenblick liegen seine Lippen auf meinen und mein Hirn hat einen viersekündigen Aussetzer.
In diesen vier Sekunden, die ich knutschend im Bus verbringe, vergesse ich tatsächlich, wo ich bin.
Es sind da einfach nur wir beide. Und wir benützen unseren Mund mal zur Abwechslung nicht dazu, uns Beleidigungen an den Kopf zu werfen.
"Fatima!"
Oh Gott...
Beim Klang von Munirs Stimme zucke ich zusammen und fahre meine Arme aus, um Neymar reflexartig von mir wegzustoßen.
Dummerweise schiebe ich ihn so unvorbereitet vom Bussitz und Neymar stolpert in den Mittelgang.
So lustig der Stunt auch aussah, so wenig kann ich meine Aufmerksamkeit darauf lenken, als auf meinen Bruder.
Doch dieser dreht sich nur lachend um und setzt sich eine Bussreihe hinter mich, seinen Blick auf das Handydisplay gehaftet.
"Das musst du dir ansehen. Rafinhas Video..."
Erleichterung durchfährt meinen ganzen Körper. Anscheinend hat mein Bruder nichts gemerkt. Kunststück, wenn man bedenkt, wie knapp das eben war. Um ein Haar hätte er Neymar und mich gesehen.
"Alter? Was machst du auf dem Boden?", fragt Rafinha, der durch die Sitzreihen auf uns zukommt und lacht Neymar eiskalt aus.
"Gestolpert?", schlägt Neymar vor, wirft mir aber einen kurzen, beschuldigenden Blick zu.
Ich zucke hilflos mit den Schultern und drehe mich zu Munir um, um mir sein bescheuertes Video anzusehen.
Als der Clip zuende ist, hält der Bus bereits beim Stadion.
Ich halte mich bewusst fern von Ney und klettere hinter meinem Bruder aus der Tür auf den laminierten Boden.
"Ich schätze, ich gehe mal zu den Tribünen?", schlage ich vor, doch Munir scheint ein wenig nervös zu sein, sodass er meine Frage einfach überhört.
"Hey, Brüderchen... Mach dir keinen Kopf, wird schon klappen.", murmele ich ermutigend, doch ich war noch nie gut in solchen aufheiternden Reden gewesen, also umarme ich ihn nur kurz und nicke ihm zu.
Ich weiß, wie nervös er sein muss.
Ich drehe mich um und laufe prompt in Sandros offene Arme. "He, krieg ich keine Umarmung, Schnecke?", schmollt er kindisch und drückt mich an sich. Ich rolle mit den Augen und grinse. "Dazu brauchst du erstmal einen Platz in der Startelf, Ramirez.", gebe ich zurück. Sandro sog zischend die Luft ein. "Autsch..."
Kopfschüttelnd gehe ich an ihm vorbei und halte unbewusst nach Neymar Ausschau, kann ihn jedoch vor dem Stadioneingang nicht mehr entdecken. Vermutlich ist er schon in den Katakomben des Stade du Marrakech verschwunden.

~*~*~*~*~*

Ich kenne dieses Stadion. Für mich war es seit Kindheitstagen ein bekannter Ort.
Früher, als mein Bruder für die Jugendmannschaft, die U14-Auswahl von Marokko gespielt hat, ist mein Vater sehr oft mit mir ins Stadion gefahren und ich musste mir jedes verdammte Spiel ansehen.
Damals für mich der Horror, heute... ertragbar.
Mein Bruder hatte, als er älter wurde, die Spanische Nationalmannschaft der marokkanischen vorgezogen. Das hatte natürlich ebenso mit der Aufnahme in die Jugendmannschaft des FC Barcelona zu tun. La Masia brachte ihn zu Barca und Barca zur Spanischen Nationalmannschaft.
Und als nun die Hymne Chérifien, die
Nationalhymne Marokkos, ertönt, durchfluten mich alte Erinnerungen.

Munir steht wie erwartet ebenso wie Neymar neben Leo Messi in der Startaufstellung.
Im Spielverlauf merkt man sofort, welche Mannschaft die Champions League gewonnen hatte.
Ohne Cruz Azul beleidigen zu wollen - für eine solche Dominanz Barcas halten sie sich sogar ziemlich wacker - aber selbst ein Anti-Fußballfan wie ich sieht, wie viel stärker die katalanische Mannschaft das Spiel beherrscht.
So ist es kein Wunder dass Lionel Messi die Mannschaft durch einen Doppelpack in die Halbzeitpause schickt.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich bereits mental aus dem Spiel rausgeklickt und habe nur noch vereinzelt auf die Bewegungen meines Bruders reagiert.
Und so manches Mal lasse ich meinem Blick auch feldabwärts auf die Nummer 11 wandern.
Es ist wahr. Die Präsenz von Neymar als Spieler auf dem Feld ist unglaublich einnehmend. Er scheint die Blicke magnetisch anzuziehen und man könnte so manches Mal meinen, er würde übers Feld Samba tanzen, so leichtfüßig spielt er.
So ist es kein Wunder, dass es in der 64. Minute im gegenerischen Kasten klingelt.
Nachdem Cruz Azul zu Beginn der zweiten Halbzeit den Vorsprung auf 1 - 2 verkürzt hatte, schlägt Barcelona mit aller Härte zurück - oder viel mehr Neymar im Alleingang, den genau das war es: ein Solotor.
Jeder, der mit Fußball vertraut war, würde wohl ausrasten. Ich hingegen bleibe ruhig und grinse bloß in mich hinein. Ich habe gewusst, dass er treffen würde. Und, dass ich für ihn jubeln würde habe ich versprochen.
In dem Augenblick, in dem ich mich vom Sitz erhebe, schafft es Neymar, sich aus der Umzingelung seiner Teamkollegen zu lösen, hebt beide Arme und deutet ein Herz in Richtung der Tribünen.
Und dabei erstirbt mein Klatschen aprupt.
Dieser Vollhonk hat mir nicht wirklich gerade sein Tor gewidmet?!

Don't Kill My Vibe // Neymar JRWhere stories live. Discover now