Wissen oder nicht wissen...

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~Munirs POV~

Ich bringe den grauen Wagen meines Vaters in der Einfahrt zum Stehen und bleibe einen Moment lang nachdenklich sitzen, den Blick starr auf das Lenkrad gerichtet.
Soll ich? Oder soll ich nicht?
Das ist hier die Frage...
Ich weiß, ich habe Fatima versprochen, dass mein Mund zu bleibt. Aber ich bin mir sicher, unsere Eltern werden mich ausquetschen wie eine Zitrone, um die Wahrheit herauszubekommen.
Das wird definitv ein anstrengender Besuch.
Seufzend steige ich aus und werde schon von meiner Mutter an der Tür begrüßt. Hat sie mich beobachtet, als ich so lange im Wagen saß.
"Hey, Mom.", murmele ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie sieht müde aus, wie mir auffällt. Ihre Augen sind klein und tiefe Schatten zeichnen sich darunter ab. Als hätte sie nicht richtig geschlafen, die letzte Nacht.
Außerdem ist sie seltsam schweigsam. Die Sache mit Fatima setzt ihr gehörig zu, dass kann ich sehen.
"Hast du etwas Neues von deiner Schwester gehört, Junge?", fragt mein Vater, nachdem ich ihn im Wohnraum ebenso begrüßt hatte.
Ich kann mir ein schweres Schlucken nicht verkneifen und greife nach einer Orange.
"Wie ich schon gesagt hab... Nichts. Sie geht nicht an ihr Telefon."
Mein Vater grummelt irgendeine Zustimmung und runzelt für einige Sekunden geistig abwesend die Stirn.
Stille legt sich über uns wie eine dicke Wolldecke.
"Wie laufen die Vorbereitungen für das morgige Spiel? Wirst du spielen?", fragt er schließlich doch und meine Laune hebt sich etwas.
"Ja, ich spiele. Der Coach stellt mich in die Startelf, weil Luis geschont wird." "Nun...", räuspert sich Dad. "Das ist großartig. Es geht gegen den mexikanischen Meister?" "Ja, Cruz Azul, wir..."
Ein lautes Klirren unterbricht uns, als meine Mutter mit Schwung ein Glas auf die Theke stellt, sodass ich mich wundern muss, dass keine Scherben daraus geworden sind.
Aber nein, es ist noch ganz, auch wenn dafür Mutters Blick schärfer als gläserne Scherben ist.
"Wie könnt ihr so dreist anfangen, über Sport zu reden, wenn unsere Tochter - deine Schwester - spurlos verschwunden ist?", zischt sie mit stahlharter Stimme und ihre grünen Augen glitzern vor Zorn.
In diesem Moment fällt mir sofort wieder ein, woher Fatima diese Ader hat.
Ich pule seufzend die Haut von der Orange.
"Mom..." "Nein, halt den Mund.", faucht Mom und schlägt mir einmal leicht auf den Hinterkopf.
"Für dich sollte es wichtig sein, Fatima zu finden. Sonst im Moment nichts!" "Aber Mom..." "Ksch!"
Mum entfernt sich von der Theke und wandert um die Anrichte herum.
Ich nutze die Chance, um meinem Vater einen hilflosen Blick zuzuwerfen, doch dieser zuckt nur mit den Schultern.
"Nimm es ihr nicht übel. So kommt deine Mutter eben mit Sorgen und Schuldgefühlen klar. Sie beruhigt sich schon wieder.", erklärt er leise und dreht sich leicht um, um seiner Frau dabei zuzusehen, wie sie kopflos auf und ab zu laufen beginnt und konfus den Wohnraum aufräumt.
Wie von selbst ballt sich meine Faust und ich starre auf die Tischkante.
Ich muss es ihnen sagen... Bevor meine Mutter vor Sorge noch durchdreht.
"Sie wird sich schon wieder melden, Mutter.", versuche ich sie mit sanfter Stimme zu beruhigen.
"Woher willst du das wissen? Sie könnte sonstwo sein! Immerhin ist sie telefonisch nicht erreichbar!", zischte sie aufgekratzt und ich verziehe das Gesicht.
"Sie ist meine Zwillingsschwester... Ich... Weiß einfach, dass es ihr gutgeht.", widerspreche ich ihr bekräftigend und ernte ein ungläubiges "Pfff".
Mein Vater dreht sich schwungvoll auf dem Sessel um. "Sie ist erst seit einem Tag verschwunden, Kahdija." "Das ist mir egal! Wenn sie sich heute nicht mehr meldet, schalte ich die Polizei ein..." "Nein!", japse ich dazwischen und ernte teils überraschte, teils erboste Blicke von beiden Elternteilen.
Ich seufze und starre die Bodendielen zu Grunde.
"Nicht die Polizei... Mum, Dad, i-ich weiß, dass es ihr gut geht. Ich weiß, wo sie ist."
Auf meine Beichte folgend legt sich schwere Stille über uns und ich will nicht lügen, die klischeehaft tickende Wanduhr macht es nicht besser.
"Woher...?", haucht meine Mutter schließlich und mein Vater dreht sich wieder um, um mir ins Gesicht zu sehen.
"Junge, ist sie bei dir? Ist sie zu dir ins Hotel?" "Nein. Ist sie nicht.", antworte ich schnell, da ich weiß, dass meine Eltern dann sofort losstürmen würden, um Fatima in unserem Hotel zu suchen.
"Aber wir haben miteinander gesprochen." "Wo ist sie? Geht es ihr gut?", fragte Mum sofort und man kann hören, dass ihre Stimme vor Kummer zu brechen droht.
"Ja, es geht ihr gut. Sie ist... bei einem Freund.", bringe ich stockend hervor und spanne den Kiefer an. Das hier ist schwerer, als gedacht.
Erneute Stille folgt.
"Bei einem Freund?", fragt Mum sofort und kommt einen Schritt näher. Sofort ist ihre Sorge überschattet von Misstrauen.
"Welchem Freund? Einem Mann? Ist das ihre Bekanntschaft, die Ablenkung? Ich wusste, dass das passieren würde, Youssef! Ich hab Recht behalten!", japst meine Mutter und schlägt die Hände theatralisch über dem Kopf zusammen.
"Mum!", stöhne ich genervt. "Kahdija, du müsstest dir selbst mal zuhören! Wenn Fatima bei demselben Mann wäre, müsste dieser ihr von Barcelona aus gefolgt sein... Das ist unwahrscheinlich.", springt mir mein Vater zur Seite und ich atme erleichtert aus.
Doch da wirft mir Dad einen unsicheren Blick zu.
"Weißt du, wer es ist? Kennst du ihn?"
Ich schlucke schwer und klappe den Mund auf, um etwas zu sagen, aber kein Ton folgt außer ein Krächzen. Wie vor Gericht kann ab jetzt alles was ich sage, gegen mich verwendet werden.
"Er kennt ihn nicht! Sie ist bei einem Mann, einem fremden Mann, Youssef! Wer weiß, was das für einer ist! Es reicht, wir sollten die Polizei einschalten, wir..."
"Ich kenne ihn! Ich weiß, wer es ist!", schrie ich dazwischen und spüre, wie sich alles in mir drin verknotet.
Tut mir leid, Schwesterchen.
"Ich hab geschworen, euch nichts zu sagen... Fatima selbst glaubt, ich würde es nicht wissen. Ich hab es selbst rausgefunden. Und genau deshalb, werde ich auch schweigen, okay?", stelle ich klar.
Meine Eltern starren mich an, als hätte ich gerade gesagt, dass Fatima nach Thailand ausgewandert sei. Pure Ungläubigkeit. Aber dennoch ist da dieser Funke Wut, der zwischen ihnen hin und herspringt.
"Du weißt, bei wem sie ist?", fragt Dad leise nach und ich nicke. "Und du weißt, dass es ihr gut geht." "Ihr gehts gut, solange ihr sie nicht kontaktiert, aufspürt oder entgegenstellt. Sie will diese Selbstständigkeit, Dad. Sie ist stur wie immer, aber sie will nicht, dass ihr sie weiter so kontrolliert. Solltet ihr akzeptieren.", beratschlage ich sie.
Die Lippen meiner Mutter sind eine dünne Linie.
"Was weißt du von diesem Mann?", zischt sie gehässig und ich kann an der Art, wie sie Mann ausspricht, deuten, wie sehr ihr die Tatsache missfällt, dass Fatima sich mit jemandem trifft.
Ich sehe nervös auf die Uhr, als ich über ihre Frage nachdenke. Schwere Sache, auf das die richtigen Worte zu finden.
"Er ist okay, Mum. Ich dachte eigentlich, dass Fatima ihn hasst aber das war wohl eher eine Lüge ihrerseits. Ich bin mir sicher, meine Schwester weiß, was sie tut. Das einzige, dass sie im Moment negativ beeinflusst, ist, dass sie sowas von euch geheimhalten muss. Sie muss sich verstecken, von zuhause weglaufen und ihr Telefon stummschalten, nur weil sie eigene Entscheidungen trifft. Und das Schlimmste ist, sie hat beschlossen, nicht einmal mir zu vertrauen!"
Meine Stimme wurde gegen Ende der Tirade immer lauter, bis ich befürchtete, dass die Nachbarn uns hören konnten. Aber das ist mir ziemlich egal.
Mum starrt mich aus funkelnden Augen an und Dads Blick rutscht zu Boden.
Irgendwie plötzlich sauer fahre ich mir durch die Haare und laufe um die Theke herum auf die Tür zu.
"Ich fahr dann mal zurück ins Hotel! War nett, mit euch zu reden.", rufe ich noch, bevor ich den Raum verlasse.

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~

Ich hatte bei der Rückkehr ins Hotel schon erwartet, dass Fatima nicht brav im Zimmer sitzen bleiben würde.
Und ich bin mir ziemlich sicher, wo oder wohl eher bei wem sie war.
Ich hatte vorgesorgt, indem ich mir eine zweite Zimmerkarte von der Rezeption geholt hatte. So würde wenigstens nicht immer einer von uns ausgesperrt bleiben.
Sandro hatte mich vor dem Hotelzimmer abgepasst und gleich mit Fragen durchlöchert. Hatte er auf jemanden gewartet?
Als ich dann endlich im Zimmer alleine war, dauerte es nicht lange, bis ich Schritte hörte und die Tür aufgesperrt wurde.
Ich sehe auf die Wanduhr. Es war 19:00 Uhr.
"Hey, Schwesterchen.", begrüße ich sie betont ruhig und sehe dabei zu, wie sie angespannt in der Tür stehenbleibt.
"Mist!... Du bist schon da..." "Was?" "Gar nichts!", verbessert sie sich schnell und beißt die Zähne zusammen, bevor sie die Tür hinter sich schließt.
"Ähm... Ich... war bei Sandro im Zimmer, während du weg warst. Nur... Falls du dich fragen solltest..."
Das lustige ist, dass ich weiß, dass sie lügt. Ich hatte zuvor noch mit Ramirez geredet.
Und ich bin kurz davor, es ihr zu sagen... Dass ich es weiß.
"Bei Sandro? Und du bist dir sicher?", frage ich misstrauisch und achte besonders auf ihre Reaktion. Bis auf ein kurzes Ballen der Faust behält meine Schwester allerdings ihr Pokerface.
Ich bin beinahe beeindruckt, wie cool sie bleibt, bis ich ihre Stimme höre.
"Äh, ja? Wieso? Sollte ich nicht?"
Sie versucht tough zu klingen, scheitert aber kläglich. Ihre Stimme bricht und gleicht einem hohen Krächzen.
Es klingt erbärmlich. Und plötzlich hab ich die Wahl, ob ich sie konfrontiere oder meine Schwester in dem Glauben lasse, ich wüsste von nichts.
"War nur eine Frage, Fa. Kein Grund, launisch zu werden.", gebe ich leicht grinsend von mir und lehne mich in die Kopfkissen zurück.
Fatima grinst ebenso und ich erkenne, wie erleichtert sie ist, dass ich das Thema so schnell wieder fallen lasse.
Wieso ist das für sie so wichtig, dass niemand davon erfährt?

"Wie auch immer.", murmelt sie stattdessen.
"Willst du nichts von Mum und Dad hören?", frage ich vorsichtig nach und ernte einen feurigen Blick. "Du hast ihnen aber nichts erzählt?" Doch, aber ich hatte keine andere Wahl, Schwesterherz. "Nein, hab ich nicht.", verneine ich und Fa nickt erleichtert.
"Dann ist ja gut." "Aber... Fatima, sie machen sich Sorgen. Mum ist am Durchdrehen... Noch mehr, als sonst.", versuche ich erneut, ihr ins Gewissen zu reden.
Es wäre so viel einfacher, wenn sie endlich mit der Sprache rausrücken und sich uns wieder anvertrauen würde.
"Interessiert mich nicht besonders...", seufzt sie und schreitet zur Balkontür.
"Na schön, dann eben nicht...", flüstere ich genervt und schnelle vom Bett hoch.
"Munir?" "Ja?" Als ich mich umdrehe, kann ich sie äußerst unentschlossen vor dem Bett stehen sehen.
"Ja?" "Ich wollte fragen... Ob du mir Karten fürs Spiel morgen besorgst?"
Ich hob die Augenbrauen und ging die zwei Schritte, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen.
"Bist du krank?"
Genervt schüttelt meine Schwester die Hand wieder ab. "Hör auf. Das ist mein Ernst. Das ist ein wichtiges Spiel für dich. Ich will dich mal unterstützen.", erklärt sie und wirkt dabei fast schon beschämt.
"Sicher, dass alles okay ist?", frage ich scherzhaft nach und Fatima rollt mit den Augen. "Besorgst du mir jetzt Karten oder nicht?" "Na klar, die besten Plätze, die ich kriegen kann.", versichere ich ihr und wuschele ihr durch die Haare, was sie mit einem genervten Knurren bekundet.
"Ich geh duschen und leg mich dann hin, ja?", informiere ich sie, als ich mich schon wieder umdrehe, um ins Bad zu laufen.
"Tu dir keinen Zwang an, Bro... Moment! Es ist nichtmal halb acht! Was bist du denn für ein Langweiler?", ruft sie entrüstet. "Ein hart trainierender, für morgen stark ambitionierter Langweiler!", erkläre ich feierlich und bekomme ein genervtes Grinsen.
"Sind deine Teamkollegen auch so lahm?", fragt sie scherzhaft und ich zeige ihr den Mittelfinger, bevor ich die Tür hinter mir zuziehe.
Es ist glasklar für mich: Solange ich den Unwissenden spiele, hab ich das Gefühl, Fatima würde mir eher vertrauen. Sobald sie erfährt, dass ich das zwischen ihr und meinem eigenen Teamkollegen mitbekommen habe... Keine Ahnung, wie sie reagieren wird. Aber lustig wird's nicht werden!
Ich muss sie nur irgendwie dazu bringen, es mir selbst zu erzählen...
Aber von diesem Vorhaben scheint sie zu diesem Zeitpunkt meilenweit entfernt zu sein...

~*~*~*~*~*~*

Ciau ragazzi!

Tut mir leid für das kurze Filler-Kapitel, aber ich finde es wichtig, dass ihr auch mal erfährt, wie Munir dazu steht.
Bam! Wer von euch hat eigentlich damit gerechnet?
Aber kommt schon... Munir ist nicht blind und nicht dumm, die Anzeichen waren da und er erkennt die Gemütsveränderungen seiner eigenen Zwillingsschwester wohl doch am besten, oder nicht?
Könnt ihr euch denken, welche "Anzeichen" ich ungefähr meine?
Würde mich interessieren, hinterlasst mir doch ein kleines Kommentar, wenn ihr Lust habt.

Ansonsten wünsche ich euch einen schönen Start in die Woche...
(Tut mir leid xD)

LG eure Chato

Don't Kill My Vibe // Neymar JRKde žijí příběhy. Začni objevovat