„Hast du gestern Abend nicht schon genug gesehen?", gebe ich zurück und streife die Tunika über den Kopf. Diese reicht mir etwas über die Hüfte, was fürs erste genug ist, um zumindest aus dem Bett zu steigen.

„Naja, also eigentlich..."

Ich schubse ihn am Vorbeigehen an der Brust, sodass er fast zurück aufs Bett kippt. Neymar lacht amüsiert auf. „Beweg dich endlich!", zische ich und doch kann ich ein kurzes Lachen nicht vermeiden. Unser Umgangston hat sich irgendwie kein bisschen verändert.

Ich greife nach meinem Handy und trete nach draußen auf den Balkon, um etwas in Ruhe zu sein, während Neymar anscheinend endlich einen Zahn zulegt.

In dem Augenblick, als ich mich in den Stuhl sinken lasse, ertönt das Knirschen einer sich-öffnenden Tür und direkt über mir tritt jemand auf seinen Balkon. Und mit einem heftigen Zusammenzucken realisiere ich, wer dort auf Marokkanisch telefoniert. Diese Stimme erkenne ich aus tausenden. Wie denn auch nicht, ich war mit ihr aufgewachsen.

„Wie meinst du...? Papa, ich... ich hab keine Ahnung, wo sie ist, wie lange ist sie schon weg? Seit gestern? Und wo war sie die ganze Nacht... ICH weiß es nicht, deshalb frag ich ja euch. Nein, sie ist nicht bei mir. Ganz sicher nicht, ich wüsste es ja wohl, wenn sie ins Hotel gekommen wäre. Habt ihr sie schon angerufen? Ja... ja gut, okay, mache ich... a-aber Papa, ich hab jetzt Training, okay, ich kann nicht nach ihr... in etwa einer Stunde, wieso? Zwei Stunden. Ja, kann ich machen. Ich frage Sandro auch, ob er was weiß. Sandro Ramirez. Ihr kennt... ist gut! Ich muss Schluss machen, okay? Bis dann."

Ich hatte automatisch die Luft angehalten während ich dabei zuhöre wie mein Bruder direkt über mir mit meinen Eltern telefoniert und dabei über mich redet. Und seltsamerweise durchströmt mich dabei sowohl das Gefühl der Genugtuung und Zufriedenheit, wie auch etwas Reue und Schuld. Eine komische Mischung.

Munir zischt irgendwas auf Marokkanisch und murmelt vor sich hin, bevor plötzlich das Handy in meiner Hand anfängt zu vibrieren. Glücklicherweise ist es nicht besonders laut oder auffällig, doch ich kann nicht anders, als auf die Caller-ID zu starren und dabei Munirs Gesicht zu sehen, wobei ich weiß, dass er mich nur anruft, um herauszufinden, ob es mir gut geht. Ich würde nichts lieber, als abheben und ihm zumindest einen Bruchteil von allem zu erklären, aber hier sitze ich, knappe drei Meter unter ihm und starre auf mein Handy, bis der Anruf verklingt.

Ich höre, wie Neymar aus dem Badezimmer kommt und springe auf, damit er nicht auf die Idee kommt, hier nach draußen zu kommen und mich zu verraten. Ich schließe die Glastür hinter mir und werfe mein Handy auf das Bett, während Neymar sich bereits ein Nike-Shirt überstreift, passend zur tiefhängenden Jeans und den Sneakern.

Ich setze mich an die Bettkante und beginne an meinen Nägeln zu kauen. Es ist eine miese Angewohnheit, die ich schon hege, seit ich klein bin und die sich nur zeigt, wenn ich gestresst bin. So wie jetzt.

Ich muss meinen Eltern irgendwie mitteilen, dass es mir gut geht. Sonst werde ich irgendwann noch als vermisst gemeldet und das ist das letzte, was ich will. Ich hab in meine Tasche nur das nötigste gepackt, kaum genügend Kleidung für ein paar Tage und ein paar Wertsachen. Was bedeutet, dass ich ganz schön in der Zwickmühle stecke, was das angeht.

Ich will es nicht zugeben, aber wenn ich nicht hier bei Neymar bleiben hätte können, hätte ich die Nacht wohl in irgendeiner billigen Absteige verbracht. Und selbst das hätte ich mir kaum leisten können.

Was also soll ich tun?

„Hey... Erde an Fatima?" Seine Stimme und das Schnippen seiner Finger vor meinem Gesicht holen mich zurück in die Realität und mein Blick wandert hoch, um seinem zu begegnen. Neugierig sieht er mich an.

Don't Kill My Vibe // Neymar JRDove le storie prendono vita. Scoprilo ora