ZWEIUNDDREIßIG

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RIO NAVARRO

'Van Bruggen bestätigt Gerücht über seine Sexualität'

'Van Bruggen möchte Vorbild für queere Spieler sein'

Seit Stunden sickern immer noch wenige Schlagzeilen zu mir durch. Ich habe die meiste Zeit einfach mein Handy und alles andere nur auf Flugmodus geschalten, dass mich niemand erreichen kann, genau wie Aleks. Das ist wohl das Beste, bevor wir von sonstigen Menschen angerufen werden, die sich in unser Privatleben einmischen wollen.

Was sich nur die anderen denken?

Die ganze Zeit muss ich nur an unsere Mitmenschen denken, und wie es wohl für sie aussieht. Ein Mann, der in einem Stripclub arbeitet – zum Glück wurde nie etwas von meinem Strippen erwähnt – und ein Fußballstar.

Was vor allem werden sich die Menschen denken, die mit uns die Universität besucht haben? Nicht nur angeben zu können, dass sie mit Aleks in einem Vorlesungsraum saßen, sondern auch seinen Partner kennen? Und dass er mich in der gleichen Umgebung kennengelernt hat, durch meine Nachhilfe? Was werden meine Lehrer denken? Diese Schlagzeilen werden sie definitiv auch erreicht haben. Was wohl Coach Smith sich denkt? Bei diesen Gedanken kann ich nur den Kopf schütteln.

Heute ist der Tag, in welchem sie um das Halbfinale kämpfen. Die Pressekonferenz war gestern. Das macht mir noch mehr Angst. Was wird heute passieren? Die sogenannten Gerüchte konnten noch nicht abebben, alles ist aktueller den je. Das Spiel wird heute entweder ein Beweis, dass wir im 21. Jahrhundert sind und jeder offen ist, oder Aleks wird Gesteinigt, gegebenenfalls ich. Natürlich nicht im biblischen Sinn, aber das wäre ja so gut wie. Hoffentlich sind die Securities gut aufgestellt und niemand versucht, Manchester United von diesem wichtigen Spiel abzulenken. Das sollte nicht passieren.

Gerade stehe ich mit meinem Auto auf dem Besucherparkplatz. Niemand weiß, wie ich aussehe. Nur meine Umrisse. Ich schätze, der Punkt, dass ich männlich bin, war mehr wert als meine richtige Identität. Natürlich, sobald man mehr auf das Bild geachtet hat, hätte man meine Tattoos erkennen können. Ich hatte zwar einen Hoodie an, aber einen Arm hoch geschoben. Also könnte man das als Identifikation nehmen. Aber ob darauf jemand achtet?

Die Blicke lagen einzig und allein auf unserem leidenschaftlichen Kuss. Wäre das Bild nicht unter diesen Umständen veröffentlicht worden, hätte ich es ganz schön gefunden. So intim und unerwartet wie das Bild von Stephanias Hochzeit. Die Bilder haben fast die gleichen Qualitäten.

Ich beschließe, mich der echten Welt anzunähern und schalte den Flugmodus aus und warte, bis die Nachrichten eintrudeln. Oder eher einschießen. Das erste, wonach ich sehe, ist der Gruppenchat von Oliver, Chasitity und mir. Beide fahren wütend über die Medien her. Es ist teilweise recht lustig. Beide fragen sich, wann ich wieder an mein Handy gehe und ob wir uns komplett abschotten und Aleks nicht einmal heute spielen wird.

Kurzerhand breche ich mein intentionelles Schweigen und tippe eine Nachricht.

Ich-hey, wir leben noch. Zumindest bis zum heutigen Abend. Ich habe mein Handy ausgemacht, damit ich nicht noch mehr von den Nachrichten sehe. Aleks wird tatsächlich spielen, sofern er von Coach auf das Feld gelassen wird. Niemand weiß, wie die Fans reagieren werden. Das Spiel ist in weniger als einer Stunde und die Startelf ist auch schon öffentlich, niemand fragt sich, warum Aleks auf der Bank sitzt-

Oliver-Ich wünsche euch das Beste. Es wird definitiv nicht jedem gefallen, aber hallo. Wenn man Aleks Leistung bis jetzt ansieht – obwohl erst gerade aufgestiegen ist – weiß jeder, dass ihn mehr ausmacht als seine Sexualität-

Ich-sag das mal den Medien. Ich geh jetzt ins Stadion. Ihr werdet sicherlich in dem Medien mitbekommen, wie der heutige Abend abläuft-

Ich mache mir Sorgen. Die Karriere von Aleks wurde gestern umgeschrieben. Er ist nun der schwule Fußballer. Obwohl er nicht einmal Schwul ist, aber das interessiert die Medien ja nicht.

Er hat gestern die perfekten Worte gefunden in der Konferenz. Jeder war stolz auf ihn, aber ob Fans oder Konkurrenten die gleiche Ansicht teilen?

Genau vor dem hier hatte ich Angst. Dass ich mir um Aleks Karriere Gedanken mache, worüber ich eh nichts machen kann. Ich kann die Zeit nicht aufhalten oder zurückdrehen. Wir müssen das hier und jetzt akzeptieren, auch wenn es schmerzt.

Ich atme durch und steige aus dem Auto. Gerade aus steure ich auf den Besuchereingang zu. Ich habe abgelehnt, durch den Spielereingang zu gehen, welcher mir mehr Sicherheit garantieren würde, wenn etwas passiert.

Hier stehen bereits einige Menschen an, aber ich werde nicht beäugelt. Niemand weiß, wer ich bin. Das lässt mich die angestaute Luft ausatmen. Ich untergehe den Checks und bin dann direkt auf dem Weg zu meinem Platz, welcher auf meiner Karte steht. Ich gehe keinen Umweg um mir ein Bier oder etwas anderes zu holen. Zudem trage ich nicht einmal das Trikot von Aleksander, da ich nicht zu viel Risiko eingehen möchte.

Ich fühle mich jetzt schon beobachtet.

Bis ich hier sitze sind einige Minuten vergangen und das Stadion ist schon fast randvoll gefüllt. Mittlerweile ist das Spiel ist bereits kurz vor dem Anstoß und ich blicke erneut auf mein Handy, vielleicht habe ich noch eine Nachricht erhalten, die wichtig wäre.

Als ich zwei unbeantwortete Anrufe von meinem Chef sehe, schalte ich mein Handy wieder aus und konzentriere mich auf das Spiel. Mit meiner Kündigung kann ich später auch noch umgehen. Jetzt sind erst mal das Spiel und der Gewinn wichtig.

Neben mir unterhalten sich Fans laut – damit sie den Lärm übertönen – über die Chancen. Sie sprechen nicht lange über das Thema, da direkt übergelenkt wird. Die Startelf wird erneut auf einem Monitor angezeigt als sie Spieler herauslaufen und sich versammeln.

Eine der beiden Personen versucht einen grausamen Witz zu reißen. "Da spielt Van Bruggen nicht einmal von Anfang an mit, der wurde wohl zu oft in den Arsch gefickt." Mein Körper verkrampft sich. "Ach, was soll denn das für ein Spruch sein. Er war auch mit seinem Partner zusammen, als er bei ManU angefangen hat. Da wird sich nichts ändern."

Ich weiß nicht, wer die zweite Stimme ist, aber ich danke ihr mental.

Ich selbst schreite nicht ein. Ich sollte meinen Partner verteidigen. Ich sollte Aleks verteidigen. Aber ich kann nicht, das wäre zu offensichtlich und ich möchte nicht hier in den Rängen angepöbelt werden. Nicht jeder ist so offen wie die zweite Stimme der Menschen hinter mir. Ich blicke kurzzeitig schräg hinter mich, von wo die Stimmen gekommen sind.

Eine Frau und ein Mann stechen mir ins Auge. Die Frau trägt stolz ein Trikot mit der Nummer meines Aleks. Als hätte ich ihren Blick herbeigeschworen sieht sie mich direkt an und zwinkert mir zu. Als ich meine Brauen zusammenziehe macht sie eine Geste, wie sie mit einer Mimik ihren Mund verschließt und den Schlüssel wegwirft.

Ich lächle sie an. Also ist nicht jeder so oberflächlich und hat auf mehr geachtet, als dass ich nur ein Mann bin. Sie weiß also, wer ich bin. Was ein brutaler Zufall. Ich drehe mich zu dem Spielfeld als gerade die Münze geworfen wird, wer den Anstoß hat.

Vielleicht muss ich einfach nur mehr in die Vernunft der Menschen und Fans hier vertrauen.

SCARRED AS A SOULWhere stories live. Discover now