SIEBEN

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RIO NAVARRO

Princesa-Danke, dass du rangegangen bist.-
Princesa-Ich vermisse dich.-

Diese Nachrichten erreichen mich, sobald ich ihn weggedrückt habe. Ich habe es nicht länger ausgehalten, seine Stimme zu hören. Sie löst viel zu viele Emotionen in mir aus, die ich eigentlich nicht wahrhaben möchte. So ganz und gar nicht. Ich vermisse dich auch.

Ich höre auf, auf und ab zu gehen und blicke die beiden Menschen an, die mir viel zu sehr ans Herz gewachsen sind.

Mein Herz ist in zwei gerissen. Warum bin ich hingegangen? Ich hätte mir all diesen neu heran schwimmenden Schmerz ersparen können. Wochen und Monate lang habe ich ihn ignoriert und nach hinten gestellt, damit ich ihn nicht fühlen muss. Jetzt kommt alles an die Oberfläche und ich kann mich nicht selbst halten.

Ich will ihn bei mir haben. Ich will in seinen Armen sein und seinen einzigartigen Geruch einatmen. Er soll mir in mein Ohr flüstern, dass alles okay ist und wir das beide durchstehen. Ich wünschte, ich könnte mich ihm hingeben aber das würde für zu viel Chaos sorgen.

Wenn er jetzt schon einen Vertrag bei Man U hat, kann er sich nicht noch für diesen Verein outen. Es war bereits so verdammt mutig, dass er es bei seinem College Team gemacht hat, aber in einem Profiteam ist das etwas komplett anderes. Hätte er diese Möglichkeit nicht bekommen, hätte etwas aus uns werden können? Wen belüge ich? Nicht einmal da hätte es etwas werden können.

Ich will ihm seinen Traum nicht verderben. Ich bin so verdammt stolz auf ihn, dass ich mich selbst für seine Glücklichkeit behindere. Ich bekomme keine Zeichen mit, dass er Probleme hat wie ich. Er zieht die Schule durch, exzelliert im Fußball und ist so verdammt erfolgreich. Er braucht mich bestimmt nicht.

Er hängt - genau wie ich - an unserer Ideologie fest, aber wir beide müssen die Realität akzeptieren. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, oder seine Nachrichten lese schmerzt mein Herz. Dieser Anruf hat mich in die Knie gezwungen.

Ich drehe mich selbst im Kreis. Ich will ihn, aber auch nicht.

Ich sehe immer noch auf mein Handy als meine Augen verschwimmen. Ich drücke mir meine Hände ins Gesicht, ich will nicht zusammenbrechen. Nicht vor den Menschen, vor welchen ich immer stark gewesen bin. Ich will ihnen nicht die Seite zeigen, vor welcher ich mich selbst fürchte.

Anstatt an den Tisch zurückzukehren gehe ich zur Couch und stütze meine Ellenbogen auf die Knie. Mein Gesicht immer noch in meinen Händen. Als ich langsam und leise das Weinen beginne. Meine Schultern beben und ich kann es nicht stoppen.

All der angefressene Frust kommt auf einmal. Der sonst bombensichere Damm bricht. Ich schnappe nach Luft. Und das ist wohl auch der nötige Hilfeschrei für Chas da sie sich zu mir sitzt und meine Hände von meinem Gesicht wegzieht und mich so in den Arm nimmt, dass ich ihre komplette Schulter nass mache mit meinen nicht endenden Tränen.

Tränen die ich meiner Mama nachweine, Aleks und unseren verpassten Chancen. Welchen ich wegen meinen Ansichten einen Strich durch die Rechnung mache. Warum kann ich mich nicht aufraffen?

So gerne möchte ich für ihn da sein, aber ich habe Angst, was andere sagen würden. Ein geouteter Fußballer.

Ich weiß nicht, wie lange ich in Chas Armen weine, aber langsam enden die salzigen Tränen und sie nimmt meinen Kopf in ihre Hände und streicht mir die letzten Perlen hinfort. "Du bist so stark, Rio. Aber manchmal muss man damit aufhören und andere einen unterstützen lassen. Wir alle sehen, wie es dich langsam aber sicher von innen heraus auffrisst. Wir sind für dich da."

Ich blicke in ihre blauen Augen, eine nasse Bahn auf ihrer Wange ist ein Überbleibsel ihrer Trauer.

Oli kniet sich vor mir hin. "Egal was du brauchst, sag es einfach. Wir werden dir helfen. Lass uns dir helfen, du musst nur das Wort sagen. Dir und deiner Mama."

Ich nehme alle meinen Mut zusammen und spreche das aus, was ich immer verweigern wollte. "Hilfe."

So lange habe ich mich vor dem Fall gefürchtet, wenn ich mich nicht mehr halten kann. Aber ich habe nicht gewusst, dass ich mich nicht fürchten muss, wenn ich ein Netz von Freunden – die Familie sind – unter mir habe.
Sie haben mich aufgefangen, auch wenn ich mich immer geweigert habe. Ab und zu muss man seine Schwächen zugeben und sich helfen lassen. So schwierig das auch ist. Bei den richtigen Menschen muss man sich nicht schämen. Auch wen ich eine schamhaft lange Zeit dafür gebraucht habe.

Hätte ich früher um Hilfe gefragt, hätte ich vielleicht nicht alles aufgeben müssen. Von meiner Wohnung, meiner Arbeit, meinem Umfeld. Aleksander.

Bin ich zu spät für die Zeremonie? Beide wissen, worauf ich hinauswill als ich die Uhr suche. "Soll ich dich fahren?"

"Nein, danke. Das schaffe ich selbst noch." Sie zweifeln und ich schlucke vor den nächsten Worten. "Kann ich danach noch kurz hierher kommen?"

"Immer Rio. Du bist hier zuhause."

Ich nicke. Zu ausgelaugt bin ich, mehr zu machen. Mein Kopf surrt aber ich reiße mich zusammen. Ich verschwinde darauf hin aus der Wohnung und fahre zu der Eventlocation, welche der Sportplatz der Schule ist. Von weitem sehe ich die Familien mit den Absolventen. Ich selbst habe noch nicht einmal mein Zeugnis angesehen. Aber was solls. Ich bin hier für Aleks.

Irgendwann werde ich bereit sein, ihm wieder unter die Augen zu treten ohne mich zu schämen, dass ich abgehauen bin. Das wird aber nicht heute sein. Hoffentlich kann er noch warten.

Ich finde in einer der Reihen einen unbesetzten Platz. Ich sehe mich auffällig oft um, damit ich nicht zufällig in die van Bruggens laufe, das wäre fatal. Nachdem ich mich mehrmals abgesichert habe fange ich an etwas zu entspannen. Hier unter den Angehörigen sollte mich weitestgehend niemand erkennen. Die Absolventen sitzen sowieso in den vordersten Reihen, also ist es unmöglich das mich jemand sieht.

Komplett anonym. Wie ich eben meine Schulzeit durchlebt habe. Anonym und allein. Wie es anfängt hat es auch ein Ende.

Aber ich sehe, seit langer Zeit ein Licht am Ende von dem ewig währenden schwarzen Tunnel.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen als auf der Bühne sich der Direktor einfindet und anfängt, über das Jahr und die Absolventen zu sprechen. Nach der Ansprache werden die Schüler nacheinander nach vorne gebeten.

So viele Schüler sind hier, die alle glücklich ihr Diplom abholen. Alles läuft wie ein Uhrwerk. Als man bei den Nachnahmen mit N ankommt, werde ich nicht genannt. Wie ich es wollte. Niemand wird es mitbekommen, außer die paar Personen, die ich kennenlernen durfte, dass ich nicht hier bin.

Für den Rest habe ich nie existiert.

SCARRED AS A SOULWo Geschichten leben. Entdecke jetzt