DREIßIG

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ALEKSANDER VAN BRUGGEN

Es ist nicht so, dass es unerwartet kommt. Okay, doch. Dieser Leak trifft uns schon recht unerwartet. Aber immerhin bin ich bereits bei meiner Familie, meinem Team und meinem Management geoutet. Also das hätte schlimmer laufen können. Meine Presseagenten waren auf so etwas vorbereitet, also das Worse-Case-Szenario.

Das ist es jetzt auch nicht direkt.

Okay, wen belüge ich hier?

Als heute Mittag diese gewissen zwei Informationen ihren Platz in der Medienwelt gefunden haben, wurde jeder hellhörig.

Mein Handy hat sofort geklingelt mit Braxton Heffrey am anderen Ende. Die erste Frage war, wie es mir geht. Das hat mich überrascht. Ich wusste ehrlich nicht, was ich dazu sagen soll. Ich war – nein bin – verstreut. Ich kann meine Gedanken nicht an Ort und Stelle behalten, sie entweichen mir wie Sand durch einen Sieb gerinnt.

Als dann diese Pressekonferenz angekündigt worden ist, sind die Medien komplett durchgedreht. Es wurde sich gestritten und um Geld geboten, wer mit in diesen Raum mit mir, meinem Agenten und dem Coach darf. Und die Konferenz live mitzubekommen, und am besten noch Fragen zu stellen. Ich weiß nicht, wie hoch die Summen genau waren, aber darüber wurde sicherlich auch in den Medien geschrieben.

Die, die es dennoch geschafft haben – egal ob mit Schmiergeld oder einfach nur den richtigen Chef oder richtigen Namen – sitzen nun vor mir, mit Blöcken und Stiften und hängen jeder einzelnen Person hier drin an den Lippen.

Als die Neuigkeiten ihre Runde gemacht haben, haben Rio und ich zu dem einen Richtigen entschieden. Das Leugnen würde uns nicht weiterbringen. Ich stürze ihn und seine Karriere in den Ruin, sobald ich zugebe, dass er wirklich in dieser Branche tätig war. Die Schlagzeilen, dass ich Schwul bin und mit einem Stripper zusammen bin werde ich heute berichtigen. Zum Teil.

Rio sitzt in einem der Hinterräume, oder gar bei Coach im Büro und kann die Konferenz live mit ansehen, da diese gestreamt wird. So eine Wichtigkeit habe ich also in diesem Umfeld.

Ich glaube, mir ist dieses Ausmaß gar nicht bewusst. Zumindest für mich und meine Karriere nicht. Ich weiß nur, wie es für Rio aussehen wird. Kündigung und eine minimale Wahrscheinlichkeit, dass er noch einmal eingestellt wird. Natürlich könnte ich auch in den kommenden Jahren unseren Unterhalt bezahlen, aber das wird ihm nicht gefallen.

Meine Hände schwitzen und mir surrt der Kopf von dem ganzen Gemurmel hier in diesem Raum.

Hinter mir ist eine Wand mit dem Team Logo, rechts von mir mein Coach. Heffrey steht neben uns, nicht vor der Kamera. Die Lichter werden erneut ausgerichtet und Kameras und Mikrofone ausgetestet. Vor mir liegt ein Blatt mit wenigen Punkten, die ich ansprechen soll, oder eher nicht. Aber das Blatt ist fast leer. Sie geben mir die Möglichkeit, es aus meiner Sicht zu erzählen und keine Lügen zu verbreiten oder mich gar noch tiefer in die Scheiße zu reiten.

Ich bin ihnen dafür dankbar. Nicht jeder wird so unterstützt nach so einem Blow-Up an Nachrichten. Zudem wussten beide nicht einmal, was Rio zuvor als Tätigkeit bestritten hat. Aber das haben wir dann auch geklärt vor dieser Konferenz und beide haben verständnisvoll auf diese Neuigkeiten reagiert. Hoffentlich wird das die Welt auch.

In unserem Team gehen immer noch Spekulationen über diesen Leak herum, wer es hätte sein können. Das Bild, in welchem klar zu erkennen ist, dass ich einen Mann küsse, ist verwackelt. Nicht sehr professionell. Ich weiß nicht, von wem und warum es genau jetzt veröffentlicht wurde, aber es passt so gar nicht. Dieser Wirbel ist zu kurz vor unserem Achtelfinale. Vielleicht ist das der ausschlaggebende Punkt. Jemand hat auf meinen Fall gehofft, als dieser nicht eingetreten ist, hat derjenige oder diejenige es selbst in die Hand genommen.

Die Lichter blenden mich, aber ich kann es aushalten. Coach sitzt neben mir und nickt mir ermutigend zu, als die Menschen mit dem notwendigen Equipment für diese Konferenz fertig sind und dies uns sagen.

Dadurch, dass alles direkt übertragen wird kann leider nicht mehr Nachgearbeitet werden, was mir meinen Schweiß auf die Stirn treibt. Falls ich mich verplappere, wird das wieder Zeilen schreiben.

Die Reporter wurden zuvor angewiesen, ein paar konkrete Fragen nicht zu stellen, die darüber handeln, wie wir uns kennengelernt haben, aber ich habe nichts dagegen. Er war mein Nachhilfelehrer. Man weiß nur nicht, in welcher Hinsicht.

In meinem schwarzen Shirt sieht man zum Glück nicht meine Schweißflecken, wenn sich welche bilden.

Ich lächle, als die Kameras und der Livestream gestartet wird. Mir ist nicht mehr so zu lächeln. Ich will Rio bei mir haben. Wir haben beschlossen, dass ich seinen Namen sagen werde, da ich mit ihm auch öffentlich sein werde, sobald das hier vorübergezogen ist. Dann werden die Paparazzi sowieso ihn irgendwie kennenlernen.

Ich verstehe so langsam, was Rio damit meinte, als er mir erzählt hat, dass er mich nur schützen möchte. Vor dem allem hier. Vor dieser Pressekonferenz und den Reportern, die nicht gerade nette Schlagzeilen verfasst haben und verfassen werden über Rio und mich. Damit wäre ich klargekommen. Aber es ist zu viel, dass man noch aus irgendeiner Quelle diesen Mann als Stripper identifiziert hat. Rio tut mir so verdammt leid. Er ist in seinem Beruf aufgegangen wie noch nie, und das muss er jetzt hinter sich lassen. Niemand wird einen Sozialarbeiter mit Stripperkarriere wollen.

Er wollte mich vor dem hier schützen, und dafür liebe ich ihn noch mehr. Nun muss ich aber ihn beschützen, wie es hätte sein sollen. Ich bin auf seiner Seite, genau wie jeder andere der seine Geschichte kennen würde.

Hoffentlich kann ich das auch auf diese Weise an die Medien weitergeben, ohne von seinen konkreten Umständen zu sprechen. Vielleicht ist es auch ein Missverständnis? Aber das kann nicht sein. Dafür sind die Schlagzeilen zu eindeutig.

Ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu halten. Niemand kann mir hier die Hand halten, auch wenn ich mir das wünschen würde. Ich will, dass Rio an meiner Seite ist, aber das kann ich nicht verantworten. Ich will ihn nicht noch zusätzlich in die Öffentlichkeit ziehen mit den schlechten Zeilen, als er sowieso schon ist. Was ich aber machen werde, ist ein Bild von uns beiden auf den sozialen Netzwerken hochzuladen. Das habe ich bereits mit Heffrey geklärt, was er als gute Idee gesehen hat. Dazu hat auch Rio eingewilligt. Mit der steigenden Popularität hat er kein Problem, hat er mir versichert. Nur damit, dass sein vorheriger Beruf Schlagzeilen macht. Das verstehe ich vollkommen.

Das einzige positive? Nun kann ich ihn öffentlich zeigen. Meinen Freund. Mein Rio. Meine Liebe, die einst verloren war aber doch wieder zu mir gefunden hat. Oder anders herum. Wie man es eben sehen möchte.

SCARRED AS A SOULWhere stories live. Discover now