Kapitel 19

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Etwa eine Woche später hatte Vic ihre erste Untersuchung bei Carina. Sie war wahnsinnig nervös. Hoffentlich war alles in Ordnung. Was wenn nicht alles in Ordnung war? Sie wusste nicht, wie sie das verkraften würde. Und Sean? Er würde es definitiv nicht verkraften. Es musste einfach alles in Ordnung sein. Ungeduldig wippte sie mit den Zehen, während sie und Sean im Wartezimmer saßen. Er hatte darauf bestanden mitzukommen, obwohl sie ihm bestimmt zehnmal gesagt hatte, dass man wahrscheinlich eh noch nicht viel sehen würde.

Sean legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel, um sie zu beruhigen. "Alles wird gut, Liebling. Carina wird uns sagen, dass alles super ist und uns gleich wieder nach Hause schicken." Er schien zwar Vic beruhigen zu wollen, doch es klang eher so, als wollte er sich selbst davon überzeugen, dass alles gut wird.

So viel konnte schiefgehen. Während der gesamten Schwangerschaft. Was wenn ihr Kind irgendwelche Einschränkungen hatte? Würden sie damit klarkommen? Aber auch nach der Geburt konnte noch so viel passieren. Was wenn sie ihr Kind mal für eine Sekunde aus den Augen lassen würden und es würde etwas passieren? Sie würden doch niemals wieder glücklich werden. Vielleicht waren sie dieser Aufgabe auch überhaupt nicht gewachsen. Sie hatte doch gar keine Ahnung von Kindern! Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Wie hatte sie denken können, dass es eine gute Idee war, dieses Kind zu bekommen? Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Irgendetwas drückte auf ihre Lunge. Sie bekam keine Luft mehr. Sie würde sterben. Ganz bestimmt. Sie nahm gar nicht mehr wirklich wahr, was um sie herum passierte. Für sie waren nur noch Umrisse zu sehen. Sean, der sich zu ihr beugte. Und eine zweite Person. Carina? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber es musste Carina sein. Vic's Puls war viel zu schnell. Was passierte mit ihr? War etwas mit dem Baby nicht in Ordnung? Sie musste wissen, was los war. "Sean?", keuchte sie orientierungslos. "Carina?" 

"Vic, du bist im Krankenhaus", hörte sie Carina's Stimme, doch es war, als würde die Stimme von ganz weit weg kommen. Da war so ein Rauschen. So, als wären sie unter Wasser. Alles war so surreal. "Ich bin es, Carina. Und Beckett ist auch hier. Wir sind da. Du hast eine Panikattacke. Du bist in Sicherheit."

Eine Panikattacke? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte Schmerzen in der Brust und sie fühlte sich so abwesend. Das konnte keine Panikattacke sein. Sie hatte ein ernsthaftes medizinisches Problem. Warum nahm sie denn niemand ernst? Sie versuchte, sich zu verständigen, aber sie brachte kein Wort heraus.

"Victoria, ich bin da", sagte Sean aus der Ferne. Sie spürte, wie er ihre Hände hielt. Und sie sah, dass er vor ihr kniete. Aber seine Stimme war weit weg. "Wir sind im Krankenhaus. Zur Untersuchung. Versuche, ganz ruhig zu atmen. Einatmen." Er machte eine kurze Pause. "Und ausatmen. Einatmen. Und ausatmen. Und wieder einatmen."

Seine ruhige, tiefe Stimme beruhigte sie und sie versuchte, seinen Anweisungen zu folgen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Seine Stimme brachte sie wieder ein wenig ins Hier und Jetzt. Ihre Wahrnehmung war nicht mehr so verzerrt und seine Stimme hörte sich nicht mehr so seltsam an. Sie klammerte sich an seinen Händen fest. Was war da gerade passiert? "Was ist los? Wo bin ich?", fragte sie verwirrt.

"Du bist im Krankenhaus", wiederholte Sean mit besorgter Stimme. "Und du hattest gerade eine Panikattacke."

Fassungslos starrte sie ihn an. Eine Panikattacke? Hier? Sie rannte regelmäßig in brennende Häuser und ausgerechnet hier hatte sie eine Panikattacke. Als sie bemerkte, wie viele Menschen sie gerade anstarrten, wurde ihr richtig unwohl.

"Ich bringe dich jetzt in den Behandlungsraum, okay?", meinte Carina, die die vielen Blicke auch zu spüren schien. "Und dann hole ich dir erst einmal ein Glas Wasser."

Noch immer etwas benommen ließ sich Vic von Sean und Carina in den Behandlungsraum bringen. Während Carina ihr etwas zu trinken holte, nahm Sean neben Vic auf der Liege Platz und stützte sie. Ihre Wahrnehmung wurde immer klarer. "Danke, Sean. Du kannst mich jetzt loslassen. Es geht wieder."

Vorsichtig ließ er sie los, behielt sie aber genau im Auge. Er schien sehr besorgt zu sein. Carina reichte ihr währenddessen das Wasser und sie trank es in großen Schlücken aus. Danach fühlte sie sich schon viel besser. "Danke." Dann sah sie Carina an. "Warum ist das gerade passiert?"

Carina nahm sich ihren Stuhl und setzte sich zu ihr. "Eine Panikattacke kann viele Gründe haben. Gerade in der Schwangerschaft. Der Körper verändert sich und die Hormone stellen sich um. Und man hat mehr Stress. Viele werdende Mütter sind besorgt. Machen sich ständig Gedanken."

Vic nickte. "Ich hatte das Gefühl, dass ich dem nicht gewachsen bin. Es kann so viel schiefgehen. Vor der Geburt. Nach der Geburt. Immer. Und dann habe ich keine Luft mehr bekommen."

"Viele Menschen haben Panikattacken. Sie sind an sich nicht gefährlich, aber wenn sie öfter vorkommen, ist es wichtig, Strategien zu entwickeln, um damit zurechtzukommen. Denn besonders in der Schwangerschaft ist eine medikamentöse Behandlung nicht zu empfehlen", erklärte Carina. 

"Es wäre wahrscheinlich sinnvoll, dass du mal mit Diane darüber sprichst", schlug Sean vor.

Vic nickte. Das war eine gute Idee. Diane konnte ihr da bestimmt einige sehr nützliche Strategien zeigen.

"Na dann schauen wir uns doch mal das Baby an", meinte Carina lächelnd. "Wenn du bereit bist, setz dich doch bitte auf diesen Stuhl, Vic."

Vic konnte rein gar nichts auf dem Ultraschallbild erkennen. Für sie sah das aus wie Rohrschach-Tests, diese Tintenkleckse, die Psychotherapeuten früher für die Diagnostik verwendet hatten. Aber Carina grinste, das war wohl ein gutes Zeichen. "Ich sehe hier schon einen Herzschlag", meinte sie. "Du bist wahrscheinlich ungefähr in der siebten Woche, genau kann man das aber noch nicht sagen."

Vic fiel ein Stein vom Herzen. Es war alles in Ordnung. Sie suchte Sean's Blick. Er sah sie freudestrahlend an und drückte ihre Hand ganz fest. "Wir bekommen ein Baby", sagte er, als hätte er es jetzt erst wirklich realisiert. "Vic, wir bekommen ein Baby." Mit Tränen in den Augen küsste er sie. Dann streichelte er ihren Bauch. "Ich liebe euch beide."

If we have each other - Station 19/Vic x BeckettWhere stories live. Discover now