Kapitel 9

18 1 0
                                    

In Diane's Büro fühlte sie sich unwohl. Sie mochte Diane und hier als ihre Patientin zu sitzen, war ihr irgendwie unangenehm. Aber sie hatte gewusst, dass sie sie in dieser Situation brauchte und war froh, dass Travis sie angerufen hatte. Vic war sich sicher, Diane würde sicher später auch noch mit Travis, Andy und Maya reden wollen. Aber keiner von ihnen war in dieser Situation so erstarrt gewesen wie Vic. Und es war verdammt peinlich. Sie war andauernd mit solchen Situationen konfrontiert.

Sie konnte es einfach nicht verstehen. Was hatte sie denn falsch gemacht? Hätte sie hartnäckiger sein müssen, als Sean ihr die Freundschaft gekündigt hatte? Sie hätte sich nicht so einfach abschütteln lassen dürfen. Sie hätte nach ihm sehen müssen. Er hätte es ihr übel genommen, dass sie sich so verhielt, als sei sie seine Therapeutin. Aber zumindest hätte er vielleicht nicht versucht, sich umzubringen.

"Möchten Sie mit mir teilen, was in Ihnen vorgeht?", fragte Diane und musterte sie besorgt.

Vic zuckte die Achseln. Natürlich wollte sie das, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Ausdruck bringen sollte, was sie gerade dachte. "Ich verstehe es einfach nicht."

"Was verstehen Sie nicht?"

Dann brach es aus ihr heraus. "Ich verstehe nicht, warum ich nicht genug war. Ich habe versucht, für ihn da zu sein und ihm einen Grund zu geben weiterzuleben. Warum war ich nicht Grund genug?" Sie war den Tränen nahe.  

Diane beobachtete sie mit einem neugierigen Blick. "Haben Sie Beckett gesagt, was Sie für ihn empfinden?"

Vic runzelte die Stirn. "Wir waren Freunde. Natürlich wusste er das. Er war derjenige, der unsere Freundschaft beendet hat. Was hätte ich denn tun sollen?"

Aber Diane schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass Sie meine Frage richtig verstanden haben." Sie lächelte mitfühlend. "Vic, was denken Sie, was Sie für ihn empfinden?"

"Er ist ein Freund", antwortete sie. Für sie war er das immer geblieben. "Ich glaube nicht, dass er mich noch als Freundin gesehen hat. Aber für mich ist er immer noch ein Freund." Das war er doch, oder? Ein Freund? Es fühlte sich falsch an, ihn als Freund zu bezeichnen, aber was war er denn sonst?

"Erzählen Sie mir, was Sie fühlen, wenn Sie in seiner Nähe sind."

Sie zuckte die Achseln. "Ich denke, ich bin traurig, weil wir nicht mehr so miteinander reden können wie noch vor ein paar Wochen."

Diane nickte, aber sie schien nicht zufrieden zu sein mit der Antwort. "Und wie haben Sie sich in der Zeit gefühlt, als sie so mit ihm reden konnten? Was haben Sie da gefühlt, wenn Sie in seiner Nähe waren?"

"Glücklich, denke ich", erwiderte sie, aber sie wusste nicht so ganz, was Diane von ihr hören wollte.

"Schließen Sie die Augen, Vic", forderte Diane sie auf. "Stellen Sie sich vor, Sie sind mit ihm in einem Raum. Er ist in Ihrer Nähe. Was kommt Ihnen in den Sinn?"

"Sein Geruch", antwortete Vic, ohne lange überlegen zu müssen. "Das erste, woran ich denke, ist sein Geruch. Und daran, dass ich Eigenschaften, die ich an anderen nervig finde, an ihm plötzlich aufregend finde." Sie hatte nie gewusst, wie sie es in Worte fassen sollte, aber plötzlich sprudelte es nur so aus ihr heraus. "Aber das ist doch verrückt, oder nicht?"

Diane lächelte. "Ja, vielleicht ist es verrückt. Aber das, was Sie fühlen, kann man doch auch leicht mit Verrücktheit verwechseln, oder etwa nicht?"

Nun verstand sie, worauf Diane hinauswollte. Aber sie selbst sah das nicht so. "Liebe? Falls es das ist, was sie meinen, dann stimme ich Ihnen da definitiv nicht zu."

"Nein, ich rede nicht von Liebe", widersprach Diane. "Ich spreche vom Verliebtsein. Liebe ist das, was kommt, wenn Sie nicht mehr jeden Tag an seinem Shirt riechen und wenn sie die Eigenschaften, die sie an anderen schon nerven, an ihm noch viel mehr nerven."

Da musste Vic lachen. Das war wohl die negativste und trotzdem zutreffendste Definition von Liebe, die sie je gehört hatte. Und vielleicht hatte Diane recht. Von Liebe konnte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht sprechen. Aber verliebt war sie doch, oder etwa nicht? Trotzdem war es egal. "Es spielt keine Rolle, was ich fühle oder auch nicht fühle. Eine Beziehung mit ihm zu führen, wäre dumm. Er würde mich dafür hassen, dass ich versuche, ihn zu therapieren. Und ich würde daran auch kaputt gehen. Das geht nicht."

"Da ist sicher etwas Wahres dran", stimmte ihr Diane zu, ignorierte sie aber hauptsächlich. "Aber vielleicht beantwortet es die Frage, die Sie mir gestellt haben. Warum sind Sie nicht Grund genug für ihn, um weiterleben zu wollen?"

Skeptisch legte Vic die Stirn in Falten. Sie hatte absolut nicht die geringste Ahnung, was Diane damit sagen wollte. "Inwiefern beantwortet das meine Frage?"

"Vielleicht sind Sie nicht Grund genug, weil er gar nicht weiß, dass Sie das sein wollen. Und bevor Sie jetzt widersprechen, denken Sie mal eine Minute darüber nach."

Natürlich hatte sie sofort widersprechen wollen. Was ergab das denn für einen Sinn? Sie war nicht Grund genug, weil er nicht wusste, dass sie das sein wollte? Meinte sie damit, dass sie ihm hätte sagen sollen, was er ihr bedeutete? "Denken Sie, er hätte das nicht getan, wenn ich ihm gesagt hätte, wie wichtig er mir ist?"

"Ich weiß nicht, was er getan hätte. Ich habe keinen Einblick in seine Gedanken und das haben Sie auch nicht. Niemand kann wissen, warum er das getan hat und unter welchen Umständen er es nicht getan hätte. Das ist nicht Ihre Schuld", versuchte Diane, sie zu beruhigen. "Mir geht es mehr um Sie. Sie geben sich die Schuld. Aber ich glaube nicht, dass Sie das tun, weil Sie wirklich der Meinung sind, dass es Ihre Schuld ist. Ich glaube, Sie geben sich die Schuld, weil Sie ihm gerne gesagt hätten, was Sie für ihn empfinden. Nur hat das nichts mit diesem Suizidversuch zu tun."

Langsam fing sie an, zu verstehen, was Diane ihr sagen wollte. "Denken Sie, ich sollte es ihm sagen?"

"Ich denke, dass Sie das wollen", entgegnete Diane. "Ob Sie es sollten, weiß ich nicht. Sie haben gesagt, Sie würden daran kaputt gehen. Meiner Meinung nach bedeutet das Folgendes: Wenn Sie ihm Ihre Gefühle gestehen möchten, sorgen Sie vorher dafür, dass Sie daran nicht kaputt gehen. Wie können Sie für ihn da sein, ohne ihn zu therapieren? Denn da hat er recht. Das ist tatsächlich nicht Ihre Aufgabe. Überlegen Sie sich Strategien, die Ihnen dabei helfen können, dass Sie für ihn da sind, ohne daran kaputt zu gehen. Und das wichtigste ist Kommunikation. Ihr müsst ehrlich zueinander sein, wenn der andere eine Grenze überschreitet."

If we have each other - Station 19/Vic x BeckettWo Geschichten leben. Entdecke jetzt