Kapitel 3

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Etwa eine Woche später stand Vic wieder vor der Entzugsklinik und wartete darauf, dass Sean entlassen wurde. Er hatte sie gefragt, ob es für sie in Ordnung wäre, ihn abzuholen, da er sich sonst ein Taxi nehmen müsste. Und da sie heute ohnehin frei hatte, hatte es keinen Grund gegeben, es nicht zu tun.
Sie war die ganze letzte Woche wieder in der Arbeit gewesen. Sie hatte die Wache vermisst und es hatte ihr wirklich gutgetan, wieder ein wenig unter Leute zu kommen. Und das Adrenalin hatte ihr auch gefehlt. Mit Theo redete sie nach wie vor kein Wort. Er hatte ein paar mal versucht, sich bei ihr zu entschuldigen, aber so weit war sie noch nicht. Sie versuchte auch immer noch, Travis so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Er fragte sie zwar hin und wieder, wann sie nach Hause kommen würde, worauf sie jedes Mal antwortete, dass sie es noch nicht wusste. Sie ging ihm gar nicht mehr unbedingt aus dem Weg, weil sie noch sauer war. Nur ein bisschen vielleicht. Aber vor allem war ihr Travis zu wichtig, um ihn ganz zu verlieren. Sie hatte Angst, dass sie ihn in die Lage brachte, sich zwischen ihr und Theo entscheiden zu müssen und sie war sich nicht sicher, ob er sich auch wirklich für sie entschied.
„Hey, tut mir leid, dass es doch etwas länger gedauert hat", entschuldigte sich Sean, als er ihr bepackt mit zwei Taschen entgegenkam. Sie nahm ihm eine Tasche ab und warf sie ins Auto. „Danke fürs Abholen."
„Kein Problem", erwiderte sie. „Ich hatte sowieso nichts zu tun, außer in Selbstmitleid zu versinken." Inzwischen war sie sogar so weit, dass sie darüber Witze machen konnte, ohne dass es ihr allzu sehr wehtat. Sie hatte Sean in den letzten Tagen noch zweimal besucht und sie hatten über Gott und die Welt geredet. Und er hatte sie an diesen zwei Tagen mehr zum Lachen gebracht, als Theo es in den letzten paar Wochen getan hatte, auch wenn da nicht so viel dazugehörte. Das schönste war, dass sie seit langem endlich mal wieder das Gefühl hatte, dass ihr jemand zuhörte. Und Sean hatte sie mindestens so sehr gerettet, wie sie ihn gerettet hatte.
Während er seine letzten Sachen ins Auto packte, lächelte er sie an. „Schön, dass du deinen Humor wieder gefunden hast."
Das hatte sie wirklich. Natürlich war sie noch nicht komplett geheilt von ihrem Liebeskummer, aber sie konnte endlich wieder lachen und Witze machen wie früher. Und sie freute sich darauf, mit Sean wenigstens einen Verbündeten auf der Wache zu haben. „Kommst du morgen schon wieder zur Arbeit?", fragte sie.
Er nickte. „Es gibt keinen Grund für mich, noch länger zu warten. Es wird so oder so schwierig werden, mich wieder einzufinden. Aber ich bin froh, dass Andy jetzt Captain ist. Da wird die Eingewöhnungsphase vielleicht nicht ganz so hart." Da hatte er vermutlich recht. Andy war ein super Captain und nahm auf die Bedürfnisse ihres ganzen Teams Rücksicht. Das musste man ihr sehr hoch anrechnen. „Hast du heute noch was vor? Ansonsten könnten wir noch etwas unternehmen."
Vic überlegte kurz. Sie hielt es für gar keine schlechte Idee. Er wollte nicht allein sein und sie wollte das genauso wenig. Außerdem war ihr auch nicht wohl bei dem Gedanken, ihn alleine zu lassen. „Gerne." Sie dachte nach, wo sie hingehen konnten. Am liebsten wäre sie in die Bar gegangen, aber angesichts Seans Vorgeschichte war das natürlich keine Option. Und dann fiel ihr etwas ein, wo sie seit Jahren nicht gewesen war. Und noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, schossen die Worte aus ihrem Mund. „Ich weiß da ein ganz nettes Diner, wo wir hingehen könnten." Dass es sich bei dem Diner um den Ort handelte, an dem sie sich immer mit Lucas getroffen hatte, erwähnte sie nicht.
Als sie etwa eine halbe Stunde später beim Diner ankamen, fragte sie sich, was sie sich nur dabei gedacht hatte. Sie war seit einer halben Ewigkeit nicht mehr hier gewesen und alles hier erinnerte sie an Lucas. War sie so verzweifelt danach, all den Schmerz wieder zu spüren? War das die Art und Weise, wie ihr Gehirn die Trennung von Theo verarbeitete? Zum Glück hatten Millers Eltern sein Hausboot verkauft, sonst würde sie dort vermutlich als nächstes hingehen. Oh Vic, was hast du dir nur dabei gedacht?
„Geht es dir gut?", rief Sean sie aus ihren Gedanken. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen."
Wenn du wüsstest. „Es geht mir gut", log sie und stieg aus dem Wagen. „Ich habe heute nur noch nicht genügend getrunken. Komm, lass uns reingehen." Weder Travis noch Theo hatte sie je mit hierher genommen. Und das hatte sie auch nie vorgehabt. Es hätte sich nicht richtig angefühlt. Dieser Platz gehörte ihr und Lucas und sonst niemandem. Es hätte sich angefühlt wie eine Verletzung ihrer Privatsphäre, wenn sie die beiden mit hierher genommen hätte. Aber mit Sean war es anders. Er wusste nichts von ihrer Geschichte mit Lucas und hatte nicht die geringste Ahnung, wie viel ihr dieses Diner bedeutete. Drinnen sah immer noch alles ganz genauso aus wie früher. Auch die Uhr hing noch dort, wo sie damals gehangen hatte. Hier hatte sie die Minuten gezählt, als sie auf Lucas gewartet hatte. Sie wurde traurig, wenn sie daran dachte, wie wütend sie damals auf ihn gewesen war. Niemals hätte er sie einfach so versetzt. Warum hatte sie damals nur so an ihm gezweifelt?
„Victoria?", hörte sie eine überraschte Stimme. „Sie waren ja lange nicht mehr hier." Die Stimme gehörte dem Kellner. Dem, der sie und Lucas immer für eine Ehepaar gehalten hatte. Jetzt würde alles auffliegen. War sie deshalb mit Sean hierher gekommen? Sehnte sie sich so sehr danach, mit jemandem über Lucas zu sprechen? War es das? „Wie gehts es Ihnen?"
„Mir geht es gut, danke", antwortete sie. Was hätte sie sonst sagen sollen? Und im Vergleich zum letzten Mal, als sie hier gewesen war, ging es ihr ja auch wirklich gut. Sie war froh, dass der Kellner gleich ihre Bestellung aufnahm, ohne sie weiter auszufragen.
Aber wie sich herausstellte, wäre es sowieso egal gewesen, denn Sean war ohnehin neugierig geworden. „Du warst wohl früher öfter hier", vermutete er. „Kindheitserinnerung?"
Sie seufzte. Es hatte keinen Sinn, ihn anzulügen. Er war für sie da und hörte ihr zu. Wenn sie wollte, dass er ihr vertraute, musste sie ihm auch Vertrauen entgegenbringen. „Ich habe mich hier oft mit meinem Verlobten getroffen." Traurig senkte sie den Blick. Was würde sie nur dafür geben, dass Lucas jetzt hier bei ihr wäre. „Ich war nur noch einmal hier, nachdem er gestorben ist."
Sean sah sie erstaunt an. Er schien es wohl wirklich nicht gewusst zu haben. Es verwunderte sie ein wenig, da die Geschichte nun wirklich kein Geheimnis war. Aber vielleicht wusste er auch einfach nicht, dass es dabei um sie ging. „Das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung. Ist er bei einem Einsatz gestorben?"
Nun war es wohl an der Zeit, ihm alles zu erzählen. Es war nicht nötig, ein Geheimnis daraus zu machen. Ein Geheimnis, das sowieso jeder kannte, war kein Geheimnis. „Sozusagen. Erinnerst du dich an das Feuer in der Kaffeefabrik? Wir haben das Feuer gelöscht und ich habe ihm einen Antrag gemacht. Wir haben ausgemacht, dass wir uns am nächsten Tag hier im Diner treffen, damit er mir seine Antwort mitteilen kann. Er ist nie aufgetaucht." Sie schluckte schwer. Das war schwerer als erwartet. „Er hat mir noch Blumen gekauft und ist dann vor dem Blumenladen zusammengebrochen. Er hatte wohl Flusssäure eingeatmet. Ich habe ihn noch im Krankenhaus besucht und er hat meinen Antrag angenommen. Dann ist er gestorben."

Berührt sah er zu Boden. „Das tut mir leid. War das nicht der Einsatz, bei dem auch Chief Ripley gestorben ist?" Da weiteten sich plötzlich seine Augen und sein Mund blieb offen stehen. „Du warst das. Es gab Gerüchte, dass er jemanden von der Feuerwehr datete. Das warst du. Stimmt. Ich erinnere mich. Damals im Krankenhausflur. Travis war bei dir, um dich vor den neugierigen Feuerwehrlern zu verteidigen." Vic sagte nichts. Nur zu gut konnte sie sich an diesen Tag im Krankenhaus erinnern. Und Travis war der einzige gewesen, der ihr Halt gegeben hatte. „Tut mir leid, ich wollte keine Erinnerungen wecken. Du musst nicht darüber reden. Aber wenn du das willst, höre ich dir zu."
Sie wollte darüber reden. Und gleichzeitig wollte sie es nicht. Es war kompliziert. Sie hatte so viel um ihn geweint und sie hatte so sehr getrauert, aber es war okay. Inzwischen konnte sie damit leben. Nur manchmal, wenn sie sich allein fühlte, vermisste sie ihn noch. Aber jetzt war sie nicht allein. Sean war bei ihr und er hörte ihr zu. Zum ersten Mal seit Monaten hörte ihr jemand wirklich zu. Jetzt gerade hatte sie keinen Grund, in der Vergangenheit zu leben. „Du hast keine Erinnerungen geweckt", meinte sie. „Das habe ich schon selbst getan. Die ganzen letzten Wochen. Immer wenn ich einsam bin, muss ich an ihn denken. Und an Miller."
Sean nickte. „Ihr habt euch nahe gestanden. Du und Miller. Oder?"
Traurig nickte sie. „Wir haben eine Weile zusammen gewohnt. Ich habe ihm mit Pru geholfen und wir waren gute Freunde." Sie waren mehr als das gewesen, aber sie kam sich blöd vor, jetzt hier mit Sean alle ihre Beziehungsdramen auszudiskutieren. „So jetzt weißt du eh schon viel zu viel über mich. Erzähl mir lieber was über dich."
Er runzelte die Stirn. „So? Was willst du denn wissen?"
Das war eine gute Frage. Sie war neugierig. Am liebsten hätte sie seine ganze Lebensgeschichte gehört. Aber die würde er ihr sowieso nicht erzählen. Seine Ex-Frau? Nein, darüber wollte er bestimmt nicht reden. Seine Familie? Wahrscheinlich auch eher weniger. „Was ist dein Sternzeichen?", fragte sie.
Da brach er in schallendes Gelächter aus. „Echt jetzt, Hughes? Ausgerechnet das willst du wissen? Du glaubst doch nicht wirklich an so einen Scheiß, oder?" Nein, tat sie nicht. Aber es war ein unverfängliches Thema. Keine Trigger. Keine Probleme. Nur belangloses Gequatsche über Sternzeichen.
„Kommt drauf an", erwiderte sie grinsend. „So stur wie du bist, würde ich sagen, du bist Steinbock."
Lachend schüttelte er den Kopf. „Nein. Nicht ganz. Fische."
„Sind die nicht gefühlvoll und sensibel und so?", fragte Vic skeptisch, bevor sie anfangen musste zu kichern.
Empört verschränkte Sean die Arme. „Ich bin gefühlvoll und sensibel! Wag es nicht, mir zu unterstellen, dass ich das nicht bin!" Dann musste auch er wieder lachen. „Und du? Warte...lass mich raten. Zwilling! Zwei Gesichter und so." Vic glaubte eigentlich wirklich nicht an so einen Kram, aber erstaunlicherweise lag er damit richtig.
„Wow, herzlichen Glückwunsch", erwiderte sie und applaudierte ihm. „10 von 10 Punkten. Ich bin in der Tat ein Zwilling."
„Sieht so aus, als müsste ich doch noch anfangen, an Astrologie zu glauben", meinte Sean lächelnd. Dann blickte er sie ernst und ein wenig neugierig an. „Warum ausgerechnet Sternzeichen? Warum hast du mich nicht was anderes gefragt? Ich weiß, es würde dich mehr interessieren, was mit meiner Ex-Frau passiert ist. Oder warum ich zur Feuerwehr gegangen bin. Oder irgend so etwas. Ich meine, wenn du an Sternzeichen glauben würdest, würde ich vermuten, dass du anhand meines Sternzeichens eh schon alles weißt. Aber da du es nicht tust, warum dieses Thema?"
Tja, warum? Weil es unverfänglich war. Weil Vic keine Probleme wollte. Weil sie beide etwas Leichtigkeit verdient hatten. „Es bleibt noch genug Zeit, über ernste Themen zu reden."

If we have each other - Station 19/Vic x BeckettWhere stories live. Discover now