Kapitel 18

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In dieser Nacht war gar nicht mehr daran zu denken, wieder einzuschlafen. Dafür war Vic viel zu aufgewühlt. Und Sean ging es bestimmt genauso. Sie saßen auf dem Sofa. Arm in Arm. Und sie hatten darüber geredet, welchen Namen sie ihrem Kind geben wollten. So ganz einig wurden sie sich noch nicht, aber sie hatten ja auch noch ein paar Monate Zeit.

Vic hatte das Gefühl, dass Sean irgendwie angespannt war. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass er müde war oder an der bevorstehenden Veränderung für die beiden oder an etwas ganz anderem. Wegen dieser neuen Herausforderung nervös zu sein, war ja nichts Verwerfliches. Vic hatte auch Angst. Aber Sean schien nicht nur Angst zu haben, er wirkte auch traurig. Er redete mit ihr, schien aber immer ein wenig abwesend zu sein. Vic sah ihn besorgt an und strich ihm über die Wange. "Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es dir nicht gut geht. Was ist denn los? Freust du dich nicht?"

Er vermied es, Vic in die Augen zu sehen. Sie glaubte aber zu sehen, dass er Tränen in den Augen hatte. "Ich freue mich so sehr auf unser Baby", erwiderte er und zog sie an sich. "Aber es gibt noch einen Grund, warum ich seltsam reagiert habe, als Carina meinte, dass du schwanger bist." Seine Stimme drohte, zu brechen. "Es weckt Erinnerungen an eine sehr düstere Zeit in meinem Leben, von der ich dir bisher nichts erzählt habe."

Vic wollte wissen, worum es ging, aber sie wusste, dass sie ihm Zeit geben musste. Auch wenn er ihr inzwischen absolut vertraute, schien es für ihn noch immer nicht ganz einfach zu sein, über seine Vergangenheit zu sprechen. Und jetzt gerade wollte sie ihn einfach nur halten und nie mehr loslassen. Sie hasste es, Sean leiden zu sehen. Es tat einfach so weh. Sie schlang ihre Arme um ihn und hielt ihn fest.

Sean erwiderte ihre Umarmung, bevor er weiterredete. "Es ist über zwanzig Jahre her und ich dachte, ich wäre darüber hinweg." Er seufzte und versuchte, sich unbemerkt eine Träne aus dem Gesicht zu wischen. "Aber ich bin es wohl nicht." Er drückte ihre Hand. "Meine damalige Freundin war schwanger. Auch eher ungeplant. Aber wir haben uns trotzdem wahnsinnig gefreut."

Vic spürte, wie sich seine Finger immer fester in ihre Hand bohrten. Diese Geschichte zu erzählen, schien ihn wirklich einiges an Überwindung zu kosten. Und sie ahnte, dass die Geschichte kein Happy End hatte. "Was ist passiert?", flüsterte sie.

Nun sah er Vic zum ersten Mal in die Augen. "Es war eine Totgeburt." Er schluckte. "Peyton, meine damalige Freundin, hat so getan, als wäre nichts passiert. Ich konnte mit ihr nicht darüber reden. Ich trauerte und hatte das Gefühl, dass es ihr völlig egal war. Sie arbeitete viel und schien absolut glücklich zu sein. Sie traf sich mit Freunden, ging feiern und schien die Zeit ihres Lebens zu haben."

"Aber so war es nicht, oder?", fragte Vic, die bereits zu wissen glaubte, worauf das hinauslief.

Sean schüttelte den Kopf. "Nein, war es nicht." Er wandte sich von ihr ab. "Genau ein Jahr, nachdem sie unser Baby tot zur Welt gebracht hatte, habe ich sie mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden."

Vic lief ein Schauer über den Rücken und kurz kam ihr wieder dieses Bild von Sean in den Kopf, wie er am Strick von der Decke hing. Wie musste Sean sich nur fühlen? Diese Geschichte war schrecklich. "Was fühlst du jetzt, wenn du an diese Situation zurückdenkst?" Wahrscheinlich war das eher eine Frage, die sie als Therapeutin und nicht als Freundin stellen würde. Aber sie musste wissen, was davon ihn am meisten belastete, um für ihn da sein zu können.

Nun gelang es ihm nicht mehr, seine Tränen zurückzuhalten. "Ich vermisse meine Tochter. Es ist so lange her und ich trauere noch immer um sie." Er wischte sich über die Wange. "Und ich habe Schuldgefühle. Die Trauer ist meistens fast weg. Sie kommt nur ganz selten wieder. Wie jetzt, als ich erfahren habe, dass du schwanger bist. Aber die Schuldgefühle waren nie weg. Ich habe nie gemerkt, wie schlecht es Peyton ging. Wir haben uns irgendwie auseinander gelebt, weil ich wütend war. Ich war so wütend, weil sie so glücklich war? Ich meine, wie konnte sie nur? Wir hatten gerade unser Baby verloren! Und als ich realisiert habe, dass sie nie glücklich war, war es zu spät." Er stützte seinen Kopf mit seinen Händen. "Ich war noch so jung und war einfach zu blöd, um es zu sehen. Ich glaub, ich bin zur Feuerwehr gegangen, um es wieder gut zu machen. Ich wollte Menschen retten, weil ich sie nicht retten konnte."

Vic musste das alles erst einmal verdauen. Es tat weh, ihn so verzweifelt zu sehen. Und sie konnte ihn auch sehr gut verstehen, weil sie auch noch manchmal Schuldgefühle hatte, wenn sie an Sean's Suizidversuch dachte. Der Unterschied war, dass Sean noch lebte. Gleichzeitig war sie aber auch wütend. Wütend darüber, dass Sean sie in diese Lage gebracht hatte, obwohl er selbst ganz genau wusste, wie sich das anfühlte. Das würde sie ihm natürlich nicht sagen, denn das wäre nicht fair. Er hatte eine psychische Erkrankung und es war nie seine Absicht gewesen, sie zu verletzen. "Es ist nicht deine Schuld", versuchte sie, ihn aufzubauen.

Er nickte. "Ich weiß. Trotzdem fühlt es sich so an. Und manchmal kommt dieser Zorn in mir hoch. Dann bin ich sauer auf sie und denke, dass alles ihre Schuld ist. Ich denke, dass ich mich jetzt nicht so fühlen würde, wenn sie sich nicht umgebracht hätte. Und dann fühle ich mich erst recht schuldig."

Vic konnte das nur allzu gut nachvollziehen. "Hattest du auch Träume? Träume, in denen du diesen Moment immer und immer wieder erlebst? Und du jede Nacht schweißgebadet aufwachst?" Ihre Stimme wurde brüchig.

Sean blinzelte. Er schien es jetzt erst zu realisieren. "Es tut mir so leid. Ich...ich wollte nie, dass du dich so fühlst."

"Das weiß ich", erwiderte sie und lächelte müde. "Ich bin auch manchmal wütend auf dich. Aber das ist mein Problem, mit dem ich klarkommen muss. Dafür kannst du nichts." Ihr wurde bewusst, dass sich ihre Situation entscheidend von Sean's damaliger Situation unterschied. Sie konnte mit ihm über dieses Thema reden und konnte auch erzählen, was ihr durch den Kopf ging. Er dagegen hatte nicht mehr die Möglichkeit gehabt, mit Peyton darüber zu reden. "Ich bin für dich da. Wenn ich irgendetwas tun kann, damit es dir besser geht, lass es mich bitte wissen."

Er lächelte und versuchte, seine Tränen weg zu blinzeln. "Du hast mir zugehört. Das hat mir sehr geholfen." Er hielt kurz inne. "Diese Geschichte habe ich zuvor noch nie jemandem erzählt. Noch nicht einmal meiner Ex-Frau."

Vic streichelte seinen Kopf. Es musste ihn so viel Überwindung gekostet haben, ihr davon zu erzählen. Und sie hatte das Gefühl, ihn jetzt viel besser verstehen zu können. Seine ganze Persönlichkeit. Er war immer lieber für sich allein gewesen, um nicht noch einmal so verletzt zu werden. Oder auch, um andere Menschen nicht auf die gleiche Weise zu verletzen. "Deswegen hast du mir damals die Freundschaft gekündigt, oder? Du wolltest nicht, dass ich leiden muss, wenn du dich umbringst, oder?" Sie war selbst schockiert darüber, wie direkt ihre Worte klangen.

Er nickte. "Erst als ich im Krankenhaus wieder bei Verstand war, nachdem du mich gefunden hast, ist mir klar geworden, dass es dafür zu spät war. Und es tut mir so leid. Ich wollte nie, dass du das durchmachen musst."

"Es ist okay, Sean", erwiderte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. "Ich halte das aus. Wir beide halten das aus. Solange wir uns haben, werden wir alles schaffen." Natürlich hatte sie Angst, dass es eines Tages wieder passieren würde. Vielleicht würde er erneut versuchen, sich umzubringen. Aber sie versuchte, diesen Gedanken so gut wie möglich zu verdrängen.

"Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um immer für dich und unser Kind da zu sein. Wenn es mir wieder schlecht geht, werde ich sofort wieder in die Klinik gehen. Ich werde nicht zulassen, dass du das noch einmal erleben musst. Und erst recht werde ich das unserem Kind nicht zumuten. Ich verspreche dir, dass ich alles für euch tun werde." Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Es war ein langer und leidenschaftlicher Kuss. Aber es war nicht nur ein Kuss, es war auch ein Versprechen.

Vic glaubte ihm. Natürlich konnte man nie in die Zukunft sehen, aber sie hatte einfach dieses Gefühl, dass alles gut werden würde. Sie wusste, dass Sean noch einen langen Weg vor sich hatte. Er musste einiges aufarbeiten in seiner Therapie. Und anfangs hatte sie Angst gehabt, dass ein Baby jetzt gerade zu viel für ihn wäre. Aber jetzt glaubte sie, dass ihre Schwangerschaft ihm Kraft gab, diese Zeit durchzustehen. Er würde es schaffen, da war sie sich ganz sicher. "Ich liebe dich", flüsterte sie in sein Ohr.

If we have each other - Station 19/Vic x BeckettWo Geschichten leben. Entdecke jetzt