Kapitel 11

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Vic war wie erstarrt, als sie ihn dort hängen sah. Sie konnte sich nicht bewegen. Aber diesmal war außer ihr niemand da. Kein Travis, der Sean von der Decke holte. Keine Andy. Keine Maya. Nur Vic. Aber sie konnte nichts tun. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber sie konnte nicht. Sean's leere Augen starrten sie vorwurfsvoll an. "Vic, rette mich", hörte sie seine drängende Stimme in ihrem Kopf. "Hilf mir." Sie versuchte, den Blick abzuwenden, aber auch das konnte sie nicht. Sie konnte nur zusehen, wie Sean von der Decke baumelte. "Ich habe dir vertraut. Ich dachte, du würdest mich retten." 

Mit Tränen in den Augen nickte sie. "Ich weiß." Aber sie konnte nicht. Sie konnte einfach nicht. Es war, als würde irgendetwas sie festhalten. Sie konnte sich nicht bewegen. "Es tut mir leid", flüsterte sie. 

Plötzlich schien Sean wieder zum Leben zu erwachen. Erschrocken starrte sie ihn an. Er hatte plötzlich ein Küchenmesser in der Hand und schnitt damit den Strick durch. Dann blickte er Vic vorwurfsvoll an. "Du hättest mich retten sollen." Mit diesen Worten führte er das Messer zu seinem Hals und schnitt sich die Kehle durch. 

Vic schrie. Und plötzlich konnte sie sich bewegen. Aber warum jetzt? Sie rannte zu ihm. "Sean, bleib bei mir", schluchzte sie. "Ich liebe dich, okay? Bleib bei mir."

Plötzlich hörte sie eine weitere Stimme. "Vic!" Das war Travis. Sie drehte sich um. Travis stand hinter ihr und versuchte, sie von Sean wegzuziehen. "Vic, wach auf!"

Vic schrak hoch und schnappte panisch nach Luft. Wo war sie? Wo war Sean? Erst da merkte sie, dass sie in ihrem Bett lag. Sie war schweißgebadet und ihre Wangen waren tränennass. Travis saß neben ihr und sah sie mitleidig an. Dann schlang er die Arme um sie und sie legte ihren Kopf auf seine Brust. "Es war nur ein Traum, Vic", versuchte er, sie zu beruhigen. Sanft streichelte er ihren Rücken. "Es ist alles gut. Du bist hier, bei mir. Sean ist am Leben. Du hast nur geträumt."

Sie schluchzte in sein Shirt. Fast einen Monat war Sean's Suizidversuch nun her und sie träumte immer seltener davon. Aber ab und zu suchte sie dieser Albtraum immer noch heim. Und jedes Mal war sie der festen Überzeugung, dass Sean nun wirklich tot war. Aber es war nur ein Traum. Sean war am Leben. Er war immer noch in der Klinik. Dort war er sicher. Andy hatte ihn vor ein paar Tagen sogar besucht und hatte Vic erzählt, dass es mit seiner Psyche aufwärts zu gehen schien. Das war gut. Trotzdem ließ sie diese Nacht nicht los. "Ich dachte, er ist tot."

Travis drückte sie ganz fest an sich. "Ich weiß." Sie merkte an seiner Stimme, dass auch er den Tränen nahe. Für ihn war es bestimmt auch alles andere als einfach, seine beste Freundin immer wieder so vorzufinden. Und er konnte nichts tun, außer für sie da zu sein. Vic war froh, dass sie ihn hatte, aber so konnte es auf Dauer nicht weitergehen. Das war für ihn bestimmt auch belastend.

"Geh wieder schlafen", sagte sie zu Travis. "Du musst morgen früh raus und Eli vermisst dich bestimmt auch schon." Sie sah ihm in die Augen. "Ich komme schon klar." Sie wusste, dass seine Schicht morgen sehr bald anfing. Vic war noch nicht wieder zur Arbeit gekommen. Diane war der Meinung, dass sie noch nicht stabil genug war und da hatte sie vermutlich recht.

Aber Travis schüttelte den Kopf. "Eli kann warten. Und ich habe schon oft mit wenig Schlaf gearbeitet." Er drückte ihre Hand. "Ich schlafe heute Nacht bei dir." Dann kroch er zu ihr unter die Decke und hielt sie fest.

"Danke, Trav." Sie konnte gar nicht in Worte fassen, wie dankbar sie ihm dafür war. Wenn Travis da war, fühlte sie sich immer sofort ein bisschen besser. "Es tut mir leid. Ich weiß, dass das gerade auch nicht einfach ist für dich."

"Dafür musst du dich niemals entschuldigen, Vic", entgegnete er. Dann seufzte er. "Weißt du, was das schwierigste in dieser Situation für mich ist?" Traurig sah er sie an. "Ich möchte dem Kerl wehtun, der dir das angetan hat. Aber das geht nicht, weil er krank ist. Er kann genauso wenig dafür wie du und ist wahrscheinlich psychisch in schlechterer Verfassung als du. Und trotzdem möchte ich einfach nur..."

"Travis", unterbrach sie ihn. "Ich verstehe dich und ich freue mich, dass du für mich da bist. Aber in dieser Situation gibt es niemanden, der es verdient, dass du ihm dafür wehtust." Dann schlug sie frustriert mit der Faust in ihr Kissen. "Es ist einfach nur so verdammt unfair! Ich will einfach bei Sean sein. Ich will in seinem Arm einschlafen. Ich will mit ihm zusammen sein! Ich will mit ihm glücklich sein! Ohne diese ganze Psychoscheiße!" Sie erschrak von ihren eigenen Worten. Bis auf Sean und Diane wusste niemand von ihren Gefühlen. Inzwischen wusste jeder auf der Wache, dass sie gute Freunde gewesen waren, aber mehr nicht. Nicht einmal Travis. "Ich glaub, ich bin etwas durcheinander. Ich rede gerade Schwachsinn. Vergiss, was ich gesagt habe."

Aber ihr bester Freund schien keineswegs überrascht zu sein. "Vic, glaubst du wirklich, dass ich keine Ahnung davon hab, was du für ihn empfindest?"

Da musste sie lachen. Natürlich wusste er es. Wie war sie bloß auf die Idee gekommen, dass Travis sie so schlecht kannte? "Ist es so offensichtlich?"

Lächelnd nickte er. Er sah ihr tief in die Augen. "Liebst du ihn?"

Sie zuckte zusammen. Tat sie das? Diese Frage hatte sie sich oft gestellt. Diane hatte gemeint, dass sie verliebt war. Aber das bedeutete ja nicht automatisch, dass es nur eine kleine Schwärmerei war. Und wenn sie tief in sich hinein hörte, wusste sie doch die Antwort längst. "Ja, ich glaube schon."

"Worauf wartest du dann? Sag es ihm!", meinte Travis.

"Travis, er weiß es längst." Sie hatte zwar nicht das Wort Liebe benutzt, aber er wusste es. "Und er hat gesagt, dass er dasselbe für mich empfindet, aber wir waren uns einig, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ihm geht es nicht gut. Mir geht es nicht gut."

"Oh, das wusste ich nicht." Travis löste sich aus der Umarmung. "Aber vielleicht hilft es dir ja auch, ihn in der Klinik zu besuchen. Vielleicht hören deine Träume auf, wenn du dich mit eigenen Augen überzeugst, dass es ihm gut geht. Ich meine, du hast ihn doch schon seit einer Weile nicht mehr gesehen oder?"

Da hatte er recht. Ihr Besuch in der Klinik war nun über drei Wochen her. "Das hat Diane bei unserer letzten Sitzung auch vorgeschlagen. Ich weiß einfach nicht, wie es sein wird." Und dann sprudelte alles heraus. "Ich meine, wir waren uns einig, dass wir eine Weile Abstand brauchen. Aber wie lange ist eine Weile? Sind drei Wochen genug? Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Fünf Jahre? Ich hab keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, ich will jetzt zu ihm. Aber ich glaube auch, dass es noch zu früh ist. Wenn ich an ihn denke, denke ich immer noch automatisch an diese schreckliche Nacht."

"Ich kann deine Situation vielleicht nicht ganz verstehen", antwortete Travis. "Aber ich glaube, damit du nicht mehr an diese Nacht denkst, musst du vielleicht auch neue Erfahrungen mit ihm sammeln."

"Ich weiß es nicht", erwiderte Vic zweifelnd. "Ich weiß doch noch nicht einmal, wie er das sieht. Vielleicht ist er ja noch nicht bereit."

"Dann solltest du ihn das fragen. Sonst wirst du das auch nicht erfahren."

Damit hatte er natürlich recht. Aber sie hatte auch Angst vor Sean's Antwort. Sie hatte Angst, dass er sagte, dass er niemals bereit sein würde. Oder dass er sich getäuscht hatte und er doch keine Gefühle für sie hatte. Doch sie wusste, dass Travis absolut recht hatte. "Vielleicht besuche ich ihn morgen."

If we have each other - Station 19/Vic x BeckettKde žijí příběhy. Začni objevovat