Epilog

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NEUTRALE SICHT

Die Sonne brannte unbarmherzig auf die bereits geröteten Schultern des jungen Mannes nieder, der in Málaga auf dem Dach eines Hauses stand und sich das Meer ansah. Er wohnte schon seit einigen Monaten in diesem Haus, die Wohnung war nicht sehr gut, aber mehr konnte er sich von seinem schlechten Gehalt als Barkeeper nicht leisten und er war eigentlich auch ganz zufrieden. Er brauchte nicht viel, er hatte nicht mehr als eine kleine Sporttasche mit seinem ganzen Hab und Gut, da brauchte er keine große Wohnung. Er schob sich die Sonnenbrille wieder hoch, die etwas nach unten gerutscht war und beobachtete, wie die Wellen einige hundert Meter vor ihm an den Strand gespült wurden. Er liebte das Meer, das hatte er schon immer und er war wirklich froh, eine Bleibe gefunden zu haben, die so nah am Strand gelegen war. Er war kurz nachdem er hierher gezogen war, zu einem sehr guten Surfer geworden und genoss jede Sekunde, die er am Strand verbringen konnte, auch, wenn die glückliche Stimmung nie mehr als wenige Minuten anhielt. Sie wurde stets von einem schlechten Gewissen getrübt, das sich seit Monaten in seinem Kopf breitmachte und nie verschwand. Er seufzte. Wie sehr er sich doch wünschte, dass dieses schlechte Gewissen endlich verschwinden würde, er hatte das Richtige getan, indem er hierher gekommen war! Weit weg von zuhause, wo er ohnehin nur Ärger verursacht hatte. Hier hatte er immerhin seine Arbeit und jemanden, um den er sich kümmern konnte. Wobei diese Person sich wohl mehr um ihn als er sich um sie kümmerte. Er musste beim Gedanken an die junge blonde Frau lächeln, als diese auch schon neben ihn auf die Dachterrasse trat.
"Da ist mein cooler Surferboy ja", sagte Sarah grinsend und nahm Nero die Sonnenbrille ab, um sie sich selbst aufzusetzen, Nero blinzelte daraufhin gegen die starke Sonne an. "Du ziehst schon wieder so ein Gesicht wie nach Jans Beerdigung. Ist es wegen der Sonne? Ich hab dir doch gesagt, dass du dich eincremen sollst!"
"Sarah, du weißt genau, dass ich nicht mit Jan abschließen kann. Ich war nicht für Fin da, ich hätte mit ihr reden müssen, aber ich konnte nicht. Ich hasse mich dafür", sagte Nero ernst und ignorierte Sarahs kleine Witze, die er sonst so sehr schätzte. "Wenn ich in dieser Nacht nicht gegangen wäre, hätte ich sie unterstützen können. Ich war ein Idiot und jetzt ist es zu spät, um das wieder gutzumachen." Er dachte an die Nacht, in der er von zuhause weggelaufen war und gerade noch den Bus in Richtung Innsbruck erwischt hatte. Marius hatte ihn verfolgt, aber nicht mehr rechtzeitig erreicht und das letzte Bild, das Nero von ihm im Kopf hatte, war Marius' enttäuschter Blick, als er Nero im Bus sitzen und verschwinden sah. Dieses Bild tat mindestens genauso weh wie das Bild seiner Liebsten, Fin, die ihn angefleht hatte, nicht zu gehen. Wieso hatte er nur nicht gehört? Er war ein Idiot gewesen! Hätte er nur gewusst, dass Jan kurz vorher gestorben war, wäre er nie gegangen! Aber jetzt war ohnehin alles zu spät. Er war zwar bei der Beerdigung gewesen, aber er hatte es nicht übers Herz bringen können, mit seiner Familie zu sprechen. Eine letzte Ehrung hatte er Jan dennoch erweisen müssen, er hätte es nicht verkraftet, seine Beerdigung zu verpassen. Jan war schließlich nur wegen ihm gestorben. Zumindest glaubte Nero das.
"Es ist nie zu spät, Nero. Das hab ich dir schon hundert Mal gesagt!", wandte Sarah nun ernst ein und holte Nero damit aus seinen Gedanken. "Eine Nachricht, ein Anruf, verdammt noch mal, ein Besuch in Sterzing würde alle freuen! Sie werden Freudensprünge machen, wenn sie dich sehen! Du musst dich nur trauen, keiner wird dir böse sein, weil du verschwunden bist." Nero musterte seine Freundin. Sarah und er hatten sich hier in Málaga kennengelernt, sie war genauso alt wie er und schon seit Jahren allein auf der Straße in ganz Europa unterwegs. Als Waisenkind aufgewachsen, hatte sie sich immer selbst durchschlagen müssen und nun hatten beide jemanden gefunden, dem sie vertrauen und den sie beschützen konnten. Aber Sarahs unzerstörbaren Optimismus würde Nero dennoch nie verstehen können.
"Sarah, wenn ich nicht gewesen wäre, wäre Jan noch am Leben. Ich kann nicht zurück, selbst, wenn ich wollte", wandte Nero ernst ein und lehnte sich auf das Geländer des Balkons.
"Ich bitte dich, Fin liebt dich und du liebst sie! Die Kleine würde dich nie wieder gehen lassen, wenn du zurück kämst! Nach dem, was du mir von ihr erzählt hast, denke ich auch nicht, dass sie dir die Schuld an Jans Tod gibt. Ihr seid Freunde, vielleicht sogar mehr als das. Also schreib ihr, verdammt noch mal! Gib ihr ein Lebenszeichen! Sie hat an einem Tag zwei Männer in ihrem Leben begraben müssen, wenigstens einer könnte doch auch mal Eier in der Hose haben und sich melden!", fuhr Sarah Nero an und nahm die Sonnenbrille ab, um ihren Kumpel und Mitbewohner gereizt zu mustern. "Herrgott, sind alle Männer so schwer von Begriff?! Kein Wunder, dass ihr eure Leben nicht alleine auf die Kette kriegt!"
"Sarah, ich..."
"Schreib ihr, Nero, mehr sage ich nicht. Sie vermisst ihren Freund und dich, da bin ich mir sehr sicher. Jan kannst du ihr nicht zurückgeben, aber du kannst ihr wenigstens ihren besten Freund zurückgeben. Also lass dir ein paar Eier wachsen und mach was aus dir! Sonst mache ich es an deiner Stelle!", drohte sie und drückte ihm die Sonnenbrille in die Hand. Nero wollte etwas erwidern, doch Sarah hatte sich bereits umgedreht und ging in die Wohnung. Unsicher sah Nero ihr nach und als sie zurückkam und ihm sein neues Handy in die Hand drückte, sah er verwirrt darauf. Sein altes Handy hatte er am Flughafen in Innsbruck entsorgt, damit ihn niemand fand, in Spanien hatte er sich ein neues gekauft. Fins Nummer war die erste gewesen, die er eingespeichert hatte. "Schreib ihr. Jetzt. Sonst rufe ich sie an." Unsicher sah Nero auf sein Handy und schluckte. Fin schreiben. Eine schier unmögliche Aufgabe. Doch schließlich öffnete er mit zitternden Handy WhatsApp. Es musste sein. Wenn Sarah anrief, würde sie alles nur schlimmer machen. Also tippte er zitternd eine knappe Nachricht ein, Sarah korrigierte ihn dabei mehr als nur ein Mal und als sie endlich zufrieden war, schickte Nero die Nachricht ab.
"Und jetzt?", fragte er, während ihm sein Herz bis zum Hals schlug. "Was ist, wenn sie ihre Nummer geändert hat?"
"Cool bleiben, Sunnyboy", wandte sie ein und klopfte auf seine rote Schulter. "Die meldet sich." Unsicher sah Nero auf den Bildschirm. Fins Profilbild war noch dasselbe. Ihre Nummer hatte sie also wahrscheinlich nicht geändert. Plötzlich tauchte unter ihrem Namen ein kleiner Schriftzug auf. Online. Dann: Schreibt. Nero schnappte nach Luft.
"Sie schreibt."

Südtiroler Problem 7 - Eiskalte Rache Where stories live. Discover now