Kapitel 19

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NERO

Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Als ich Oasis gesattelt hatte, hatte Lars noch einmal versucht mich aufzuhalten, aber ich hatte ihm gesagt, dass ich der Polizei helfen würde, ich konnte nicht hier sitzen und abwarten! Ich hatte ihm danach keine Gelegenheit zur Antwort gegeben und war einfach losgeritten, auch, wenn ich das jetzt, nur wenige Kilometer nach Sterzing, bereits bereute. Ich war kein sonderlich guter Reiter und obwohl Oasis definitiv kein schwieriges Pferd war und ein wahnsinniges Tempo draufhatte, bereute ich meine Entscheidung, es nicht doch einfach mit dem Auto probiert zu haben. Ich konnte mich kaum im Sattel halten und klammerte mich einfach verzweifelt an die Zügel, während ich hoffte, die Abkürzung über die Berge nehmen zu können, um noch vor Madeleine bei Jan zu sein. Zwar hatte Lars die Polizei in Bozen verständigt, die auch sofort beim Krankenhaus Wache schieben wollte, aber ich musste trotzdem auf Nummer sicher gehen und selbst nach Bozen reiten. Abwarten und Däumchen drehen, war noch nie meine Stärke gewesen, erst recht nicht, wenn es dabei um Menschenleben ging. Nun ritt ich also die Abkürzung über die steilen Berge, während Oasis diese mit so einer Leichtigkeit bewältigte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Das zeigte nur mal wieder, was für ein grandioses Turnierpferd sie gewesen sein musste, denn trotz der steilen Wege und den vielen Steinen, zeigte sie nicht einmal ein kleines Bisschen Unsicherheit - ganz im Gegensatz zu mir. Als wir schließlich eine Wiese hoch über dem Tal erreichten, konnte ich in der Ferne tatsächlich Bozen sehen - nach nur einer halben Stunde. Das sollte ein Rekord sein, so schnell war man sonst nur über die Autobahn und das auch nur, wenn die Geschwindigkeitsbegrenzungen vehement missachtete. Ich klopfte Oasis' Hals und hielt einen Moment an, um Luft zu holen.
"Gutes Mädchen", sagte ich stolz. "Jetzt müssen wir nur noch den Berg runter und drüben über den Fluss und dann sind wir da." Oasis schüttelte den Kopf und schnaubte, fast so, als wollte sie mir zustimmen, also trieb ich sie erneut an und zusammen ritten wir etwas langsamer den Berg hinunter, um nicht zu stolpern. Es würde mir gerade noch fehlen, mich oder Oasis zu verletzen! Dann würden wir hier feststecken und dann würde ich Jan auf gar keinen Fall mehr helfen können! Langsamer als zuvor ritten wir nun also den Berg hinunter, durch den dunklen Wald, der mir die Sicht auf das Tal vor uns verdeckte. Immer wieder musste ich tiefhängenden Ästen ausweichen, die mir drohten ins Gesicht zu schlagen und ich verfluchte diesen Wald dafür, keinen richtigen Weg zu haben, den wir hätten nehmen können. Aber eigentlich hätte ich es auch erwarten können, denn wer ritt denn schon mitten durch den Wald von Sterzing nach Bozen über einen steilen Berg? Dafür gab es die Reitwege, sowie die Landstraße und die Autobahn! Dieser Weg hier war zudem matschig und rutschig, also war es kaum verwunderlich, dass es hier keinen festen Weg gab.
Es dauerte noch eine gute Viertelstunde, bis wir den Wald endlich verließen und ich einen kleinen Trampelpfad fand, der uns hinunter nach Bozen fuhren würde. Hier konnte ich Oasis endlich wieder in den Galopp treiben und nun waren wir schon beinahe in Bozen, in weniger als fünfzehn Minuten würden wir die Stadt erreichen und dann bald das Krankenhaus erreichen, das am Stadtrand lag, nicht weit von der Stadtmitte entfernt. Das war ganz praktisch, sonst hätten Oasis und ich durch die Innenstadt reiten müssen und dort hätte man uns mit Sicherheit aufgehalten. Als wir endlich wieder auf die flache Ebene kamen, spornte ich Oasis weiter an und trieb sie in einem halsbrecherischen Tempo auf den Eisack zu, den Fluss, der mitten durch Bozen floss und sich hier zwar reißend, aber zum Glück nur flach durch das Tal schlängelte. Ich trieb Oasis auf das flache Ufer des breiten Flusses zu und betrachtete die Wasseroberfläche bereits von Weitem skeptisch. Die Strömung war stark, aber der Fluss nur flach an dieser Stelle, es könnte also funktionieren, hier den Fluss zu überqueren, um nach Bozen zu kommen. Ich wollte Oasis noch weiter antreiben, aber plötzlich blieb sie einfach stehen, wieherte panisch und stieg. Mir gelang es nicht, mich rechtzeitig festzuhalten und fiel von ihrem Rücken, daraufhin spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Wirbelsäule. Verdammte Scheiße, was sollte das denn?! Da fiel es mir wieder ein. Oasis' Problem mit Wasser. Verdammt, wieso war mir das nicht früher eingefallen?! Wie sollte ich ein Pferd mit Panik vor Wasser nur über einen Fluss bringen? Oasis wieherte und kam zu mir, um mich anzustupsen, ich streichelte ihren Kopf.
"Alles gut, meine Süße", sagte ich und quälte mich unter Schmerzen wieder hoch, bevor ich mich auf ihren Rücken zog. "Mein Fehler, ich hatte vergessen, dass du Angst hast. Aber wir müssen über diesen Fluss, hörst du? Sonst stirbt Jan und das könnte ich mir nie verzeihen." Doch als ich Oasis antrieb, bewegte sie sich keinen Meter. Na toll! Das hatte mir gerade noch gefehlt! Wie sollte ich sie nur dazu bringen, durch den Fluss zu gehen? Ich stieg ab und seufzte, bevor ich sie näher an das Wasser führte, aber sie blieb nur wenige Meter vor dem Ufer stehen.
"Oasis, bitte! Ich brauche dich, ohne dich komme ich nicht nach Bozen!", flehte ich, aber sie schüttelte den Kopf und legte die Ohren an, bevor sie einen Schritt nach hinten machte. Na toll! Gut, dann eben alleine. "In Ordnung, ich verstehe dich. Aber ich muss da rüber, warte hier, ja? Ich hole dich ab, sobald ich Madeleine aufgehalten habe!" Ich ließ die Zügel des Pferdes los und lief dann schon in den eiskalten Fluss. Sofort gefroren meine Füße zu Eiszapfen und ich hatte das Gefühl, am Boden festzufrieren, aber zum Glück war das Wasser nicht tief und ich kämpfte mich trotz der starken Strömung weiter voran. Da hörte ich Oasis wiehern und als ich mich umdrehte, stand das Pferd direkt neben mir. Fassungslos sah ich sie an.
"Was machst du denn hier? Ich dachte, du magst kein Wasser!", fragte ich überrascht nach, doch sie schnaubte nur und stupste mich an. "Du magst mich wohl wirklich, was? Mir soll's recht sein, danke, Süße." Ich zog mich auf ihren Rücken und zusammen durchquerten wir den Fluss in weniger als zwei Minuten. Lachend fiel ich der Stute um den Hals und streichelte sie.
"Du bist die Beste, Oasis! Danke!", rief ich erleichtert und nahm dann die Zügel wieder auf. "Und jetzt los, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!" Wir galoppierten wieder los, in Richtung der Klinik und nach nur knappen zwanzig Minuten kamen wir tatsächlich vor der Klinik an. Ich konnte Madeleines Auto bereits vor dem Eingang parken sehen und wollte gerade von Oasis Rücken springen, als ich sie sah. Sie wollte gerade die Klinik betreten, also sprang ich von Oasis Rücken.
"Madeleine!", brüllte ich, worauf sie sich erschrocken umdrehte und dann in die Klinik rannte. Ich folgte ihr, doch wurde im Gegensatz zu ihr an der Rezeption aufgehalten.
"Nicht so schnell, junger Mann!", sagte einer der Krankenpfleger ernst zu mir. "Wieso verfolgst du unsere Schwester?" Schwester?
"Sie will einen Patienten umbringen, sie hat mir gedroht!", rief ich panisch, aber er schien mir nicht zu glauben.
"Das glaube ich nicht, Schwester Anja...", begann der Mann, aber ich riss mich los.
"Sie heißt Madeleine und bringt gerade Jan um! Ich habe keine Zeit für Ihren Scheiß, ich muss sie aufhalten!", schrie ich ihn an und war dann schon die Treppe hinauf gelaufen. Doch gerade, als ich auf der Station angekommen war, sah ich Madeleine auf der anderen Seite des Gangs eine Treppe hinunterlaufen. Scheiße, ich war zu spät! Ich wollte gerade auf die Schwesternkanzel zurennen, als ich am Arm festgehalten wurde. Ich drehte mich überrascht um und sah Francesca hinter mir stehen. Was machte die denn hier?! Ich hatte jetzt keine Zeit für ihre Anschuldigungen!
"Nero, Lars hat mich angerufen", sagte sie ernst. "Geh deiner Mutter nach und halte sie auf, bis er hier ist. Ich kümmere mich um Jan."
"Francesca, warum...?", begann ich, doch sie verdrehte die Augen.
"Willst du hier Volksrreden schwingen oder Jan retten?!", fuhr sie mich an. "Geh schon! Ich kümmere mich um Jan!" Ich lächelte sie dankbar an.
"Danke, Francesca", sagte ich noch, dann rannte ich bereits den Gang hinunter. Ich musste Madeleine aufhalten - sofort.

Südtiroler Problem 7 - Eiskalte Rache Where stories live. Discover now