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Als Victoria und ich ins Anwesen zurückkehrten, erwartete uns eine schwere Stille, als wären wir in ein dunkles Gewitter aus Sorgen und Ängsten eingetaucht. Die Blicke unserer Eltern und meines Bruders William trafen uns wie glühende Kohlen, voller Besorgnis und Verwirrung. Meine Schultern waren angespannt, während wir uns ihnen näherten.

"Was denkt ihr euch dabei, einfach abzuhauen?", brach mein Vater schließlich das Schweigen, seine Stimme hart und unerbittlich.

Victoria und ich tauschten einen flüchtigen Blick aus, bevor ich versuchte, unsere Handlungen zu erklären. "Wir mussten zu Henry Jefferson. Er saß unschuldig im Gefängnis."

"Saß?", fragte mein Bruder, woraufhin ich nickte. Es gab einen Augenblick der Stille, gefolgt von einem Chor aus überraschten Reaktionen und fragenden Blicken. "Das heißt, er wurde freigelassen?", wollte meine Mutter wissen, ihre Stimme voller Verwirrung.

Ein stummer Blickaustausch zwischen Victoria und mir genügte, um uns zu verstehen. Wir konnten nicht die ganze Wahrheit preisgeben, nicht jetzt, nicht hier, nicht vor unseren Eltern.

"Ja, er wurde freigelassen", bestätigte ich und spürte, wie die Worte bitter auf meiner Zunge lagen. "Henry ist nun wieder in Freiheit."

Ein Ausdruck des Erstaunens breitete sich auf den Gesichtern meiner Eltern und meines Bruders aus, als sie versuchten, die Bedeutung meiner Worte zu realisieren. "Aber wie ist das möglich?", fragte mein Bruder, seine Stirn in tiefe Falten gelegt.

Auch mein Vater mischte sich ein. "Sie können ihn nicht freilassen, nur weil ein daher gelaufenes Mädchen behauptet, er sei unschuldig."

"Er war bereits frei, bevor wir ankamen, Vater", erklärte Victoria. Die unsichtbaren Fragezeichen auf der Stirn unseres Vaters prägten sich noch mehr aus.

Was keiner von ihnen wusste, war, dass Henry in Wirklichkeit adliger Abstammung war und dass sein Vater, der bis dato nichts von seiner Existenz wusste, ihn aus dem Gefängnis befreit hatte. Er war kein einfacher Mann, sondern ein Herzog. Der Herzog von Cambridge. Und Henry dementsprechend sein Nachkomme.

Ich konnte nicht zulassen, dass meine Familie davon erfuhr. Mein Vater ahnte sicherlich, dass wir Gefühle füreinander hegten. Er würde Henry suchen und ihn drängen, um meine Hand anzuhalten und das wollte ich nicht. Ich wollte, dass Henry seine Ruhe hatte, dass er sein neues Leben als Herzog annehmen und sich seiner neuen Verantwortung stellen konnte. Es gab so viel, was auf ihn wartete, so viele Erwartungen und Pflichten, die er erfüllen musste. Und schon gar nicht wollte ich, dass er dachte, ich würde ihn nur wollen, weil er plötzlich einer von uns war.

♕♕♕

Es war ein kalter Tag im Mai, als ich mich auf den Weg zu Constance machte. Die Luft war klar und frisch, doch in meinem Herzen herrschte ein unruhiger Sturm. Tage waren vergangen, seitdem mein Bruder William und mein Vater Albert Collingwood aufgesucht hatten, um ihm deutlich zu machen, dass er jeglichen Kontakt zu mir meiden sollte. Ich wusste, dass ihre Drohung notwendig war, um mich vor weiterem Schaden zu schützen.

Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um Henry. Ich hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem ich mich für das Missverständnis mit der Taschenuhr entschuldigte. Die Situation belastete mich schwer, denn ich hätte meinen Vater wenigstens informieren sollen, nachdem ich ihm überstürzt das Geschenk gemacht hatte.

Ebenfalls entschuldigte ich mich dafür, dass ich ihm damals meine Gefühle indirekt gestanden und gleichzeitig offenbart hatte, dass ich einen anderen Mann heiraten wollte. Es war dumm, seine Nähe überhaupt zuzulassen, wenn der Plan anders aussah. Es hat nicht nur meine Gefühle verletzt, sondern auch seine - und das war wesentlich schlimmer für mich. Doch nun war es zu spät für Reue und Selbstvorwürfe. Ich musste die Konsequenzen meiner Entscheidungen tragen.

Als ich das Wirtshaus erreichte, fand ich Constance am Tisch sitzend, ein Tablett in der Hand und den Blick in die Ferne gerichtet. Ihr Lächeln, als sie mich sah, war warm und einladend. "Elizabeth, wie schön, Euch zu sehen!", begrüßte sie mich herzlich. Wir umarmten uns und ich war erleichtert, sie wiederzusehen.

Als wir uns an einen der Tische setzten, begannen wir zu plaudern. Constance hörte geduldig zu, als ich ihr von meinen Gedanken und Sorgen erzählte. "Ich habe einen Brief geschrieben", erklärte ich schließlich mit einem Seufzer. "Ich hoffe, es geht ihm gut."

"Ganz bestimmt", lächelte sie und legte ihre Hand fürsorglich auf die meine. "Es ist schwer, sich von jemandem zu trennen, den man gern hat. Ich verstehe Euch nur zu gut."

Ein Seufzer entfleuchte ihrer Kehle, bevor sie weitersprach. "Ich habe nie wirklich verziehen, was er mir angetan hat", fuhr sie fort, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Ich war allein mit seinem Kind, Elizabeth. Er hat sich immer ein Kind gewünscht, doch all die Jahre blieb ihm sein Wunsch verwehrt. Für mich stand fest, dass er nie etwas von seinem Nachkommen erfahren würde. Ich sah es als gerechte Strafe dafür, dass er mich rauswarf. Aber heute weiß ich, dass es falsch war. Ich war einfach eine verschmähte, verbitterte Geliebte, der das Herz gebrochen wurde."

Ich legte meine Hand beruhigend auf ihre und drückte sie sanft. "Es tut mir leid, Constance. Das muss furchtbar für Sie gewesen sein."

Sie lächelte schwach. "Aber seit er meinen Henry aus dem Gefängnis geholt hat, habe ich ihm verziehen. Als ich von der Verhaftung erfuhr, habe ich den weiten Weg auf mich genommen und den Mut gefunden, ihm die Wahrheit zu sagen. Er war überraschend verständnisvoll und hat keine Fragen gestellt. Als er mit mir kam und Henry im Gefängnis sah, erkannte er die Ähnlichkeiten zwischen ihm und sich selbst. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass Henry sein Sohn ist."

Ich war beeindruckt von Constances Stärke und ihrem Mut, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und für die Zukunft ihres Sohnes zu kämpfen. "Das ist wundervoll, Constance. Ich freue mich für Sie und für Henry."

Sie lächelte dankbar. "Danke, Elizabeth. Es ist eine Erleichterung zu wissen, dass Henry endlich die Liebe seines Vaters erfährt und die Unterstützung bekommt, die er verdient." Ihre Augen wurden glasig, und ihre Stimme begann zu zittern. "Ich wollte ihm nie etwas schlechtes. Er hätte wohlbehüteter aufwachsen können, stattdessen musste er in seinen jungen Jahren schon so hart arbeiten und diese Boxkämpfe austragen, nur um ein paar Münzen zu verdienen. Und alles nur, weil ich von der Liebe enttäuscht wurde."

Sie hatte mein Mitgefühl, aber auch mein vollstes Verständnis für ihre Taten. Für sie war es das richtige. Eltern müssen manchmal Entscheidungen treffen, die nicht immer leicht sind. Ebenso mein Vater, der mich mit einem Mann vermählen wollte, der bereit war, mir Schaden zuzufügen. Hätte er das vorher geahnt, hätte er anders entschieden, das wusste ich.

Nach einer Weile des Schweigens, wischte sie ihre Tränen weg und ich erinnerte mich an den Brief, wegen dem ich hergekommen war. "Constance, könnten Sie ihm den Brief zukommen lassen oder mir wenigstens eine Adresse nennen?", fragte ich zögerlich.

Sie nickte lächelnd, nahm den Brief an sich und verstaute ihn in dem Bund ihrer Schürze. Ich war ihr so dankbar, dass sie mir half, obwohl ich für sie eine völlig fremde war. Doch ich hatte das Gefühl, als hätten wir eine tiefe Verbindung zueinander.

Royal Escape (ONC 2024)Where stories live. Discover now