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Die Gaslampen warfen ein bleiches Licht auf die regennassen Straßen Londons, als ich durch den regen Verkehr zu dem prächtigen Anwesen der Collingwoods fuhr. Die Räder des Kutschwagens quietschten auf dem gepflasterten Weg, während der feine Nieselregen meinen Blick auf die erleuchteten Fenster der noblen Residenz richtete. Ich spürte, wie sich mein Magen vor Unbehagen verkrampfte.

Das Jahr 1825 markierte den Beginn einer weiteren Ballsaison, eine Periode gesellschaftlicher Ereignisse, die nicht nur aufgrund ihrer glanzvollen Oberfläche von Bedeutung war, sondern auch tiefe Auswirkungen auf das Schicksal vieler Familien haben sollte. In den adligen Kreisen Londons wurden die Vorbereitungen für diese Veranstaltungen mit einer fast rituellen Genauigkeit getroffen und der Glanz und Glamour der bevorstehenden Bälle ließen die Erwartungen in die Höhe schnellen.

Mein Vater, Earl Archibald Lancaster, war ein imposanter Graf von strengen Überzeugungen und unbeugsamer Autorität. In den Mauern unseres Anwesens verkörperte er das Bild eines aristokratischen Patriarchen, der über das Schicksal seiner Familie herrschte. Für ihn war die Ballsaison eine einzigartige Gelegenheit, die Zukunft seiner Töchter zu formen und die Weichen für die weiteren Familiengeschicke zu stellen.

Sein Blick war sowohl auf den Reichtum der Familiendynastie als auch auf die gesellschaftliche Anerkennung gerichtet. Seine Überzeugungen und Prinzipien spiegelten sich in den Traditionen wider. Die Wahl der Ehepartner für seine Töchter war für ihn von strategischer Bedeutung. Die Ballsaison war somit nicht nur eine Gelegenheit für rauschende Feste, sondern auch eine Möglichkeit, um Allianzen zu schmieden und dynastische Pläne in die Tat umzusetzen.

Die Erwartungen zehrten an den Nerven meiner Familie. Insbesondere waren meine Schwester und ich betroffen. Während die noble Gesellschaft darauf wartete, in den prächtigen Ballsälen ihre Tänze zu vollführen, lag auf uns der Druck, angemessene Ehepartner zu finden, die nicht nur den sozialen Status, sondern auch den Wohlstand unserer Familie erhöhen würden.

Für mich war es somit nicht nur eine Vielfältigkeit von festlichen Veranstaltungen, sondern auch ein komplexes Netzwerk von Intrigen und Machtspielchen. Die Auswahl der geeigneten Damen wurde zu einer Art sozialem Schachspiel, bei dem die Züge strategisch überlegt und im Voraus geplant wurden. Und in diesem Spiel wurde ich zu einer der zentralen Figuren ...

Mein Vater hatte sich bereits in den Kopf gesetzt, wer mein zukünftiger Gatte sein sollte: Albert Collingwood - ein Mann, den ich nicht wollte. Für ihn stand fest, dass meine Vermählung nicht nur meinen eigenen Status, sondern auch den unserer Familie stärken würde. Doch in meinem Herzen, das nach Freiheit und echter Liebe lechzte, regte sich eine stille Rebellion gegen die Fesseln seiner Traditionen.

"Nach dir, Schwester", hörte ich meinen älteren Bruder William mit einem zuvorkommend höflichen Lächeln sagen. Er hielt mir seine rechte Hand entgegen, nach der ich dankbar griff. Als ich aus der Kutsche stieg, fühlte ich den kalten Wind des Frühlings, der durch mein Kleid strich. Das leichte Gewand aus saphirblauer Seide, mit zarten Blumenmustern bestickt, war ein Teil des sozialen Drucks, welchen man auf Frauen in meinem Alter ausübte.

Stumm folgte ich meinem Bruder und meiner Mutter, Countess Eleanor Lancaster, durch die Eingangshalle, wo bereits die lebhaften Gespräche und das Klirren von Gläsern meine Ohren erreichten. Meine Mutter war eine Frau von königlicher Würde mit stets korrektem Auftreten. Doch heute spiegelte sich in ihren Augen eine unruhige Anspannung wider, die ich bisher nicht von ihr kannte.

Der Ballsaal des Collingwood-Anwesens erstreckte sich vor mir wie ein riesiger Tempel. Prunkvolle Kronleuchter hingen von den hohen Decken. Ein Meer von Kerzenflammen flackerte an den Wänden, während die Gäste, die sich in ihren teuersten Kleidern und Anzügen präsentierten, sich zu den Klängen der Klaviermusik bewegten.

"Da vorne sind Vater und Victoria."
William ging voraus, geradewegs auf den Rest unserer Familie zu. Der Blick meines Vaters ruhte auf mir. Seine Miene war ernst und ich konnte den erwartungsvollen Ausdruck in seinen blauen Augen erkennen. Er hatte seine Gründe für diese Verbindung. Die Collingwoods waren eine Familie von großem Reichtum, und das schien für meinen Vater von Bedeutung zu sein. Für ihn war es wichtig, dass die gesellschaftliche Stellung und der Wohlstand der Lancasters gewahrt blieben.

Als ich durch den Saal schritt, spürte ich die Blicke der anderen Gäste auf mir ruhen. Ich war die älteste Tochter der mächtigen Lancasters, und meine Anwesenheit wurde als Symbol für die Fortsetzung unserer edlen Linie betrachtet. Doch tief in mir brannte der Wunsch nach einem Leben, das nicht von den rigiden Regeln der High Society bestimmt wurde.

Ein leiser Seufzer entwich meinen Lippen, als meine Augen auf Simon Thornton fielen. Einen Mann, der sich in der adligen Welt zu bewegen schien, als gehöre er dazu. Seine dunklen Augen trafen meine und ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. Simon war anders - ein Geschäftsmann, der seinen eigenen Weg ging, ohne sich den Konventionen der Adelsherrschaft zu beugen.

"Komm, Elizabeth! Lass uns tanzen", forderte mich meine Schwester Victoria auf, als ich vor ihr zum Stehen kam. Während ich mich widerwillig in den Tanz einreihen ließ, versuchte ich, die Gedanken, die mein Inneres beherrschten, an Albert Collingwood zu vergessen. Meine Schritte waren leicht, meine Haltung aufrecht, doch meine Gedanken wanderten zu meiner ungewissen Zukunft. Ich träumte von einem Leben, das nicht von den Wünschen meines Vaters erstickt wurde.

Der Saal strahlte vor Eleganz und Pracht, während die Melodie des Walzers die Tänzer in einen synchronen Rhythmus versetzte. Mein Vater beobachtete mich genau, als er Albert Collingwood an mich heranführte. Der schmierige Erbe neigte höflich den Kopf, doch sein Blick verriet einen eindringlichen Hochmut, der mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.

Während ich Alberts unbeholfene Versuche, mir näher zu kommen, mit Ablehnung und Resignation ertrug, lächelte mein Vater befriedigt, doch ich konnte die Leere in mir nicht ignorieren.

In den folgenden Wochen der Ballsaison würde sich das Drama weiter entfalten. Intrigen würden gewoben, Herzen würden brechen, und Allianzen würden geschmiedet werden. Doch in den verborgenen Winkeln meiner Seele keimte ein Widerstand gegen die Fesseln der gesellschaftlichen Zwänge. Ein Flüstern der Rebellion, das den Tanz der Pflichten in Frage stellte und nach einem Hauch von Freiheit verlangte.

Royal Escape (ONC 2024)Where stories live. Discover now