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Das Gewicht der bevorstehenden Entscheidungen lastete auf meiner Seele. Der unvermeidliche Moment rückte näher - der Tag, an dem Albert Collingwood um meine Hand anhalten würde. Bei dem Gedanken daran, lief ein eiskalter Schauer über meinen Rücken.

Verzweiflung trieb mich dazu, mich den Männern meiner Familie anzuvertrauen. Doch mein Vater, ein Mann von strenger Haltung und festen Überzeugungen, ließ wenig Raum für Widerspruch. Mein älterer Bruder William, wenn auch verständnisvoller als mein Vater, konnte gegen die Wogen der Tradition nur wenig ausrichten. Die Entscheidung war gefallen und ich war wie ein Blatt im Wind, dessen Kurs bereits festgelegt war.

In den dunklen Stunden der Nacht suchte ich nach einem Ausweg. Doch egal, wie sehr ich mir den Kopf zerbrach, die Mauern schienen unüberwindbar und meine Suche nach einer Lösung endete in einer Sackgasse.

Eines Abends, als das Anwesen von einer seltsamen Stille erfüllt war, entschied ich mich für einen weiteren Akt der Rebellion. Die einzige Möglichkeit, um selbst über mein Leben bestimmen zu können.

Ich schlich mich in das Gemach einer Bediensteten von uns und suchte nach schlichter Kleidung, die mir zur Flucht verhelfen sollte. Die Griffe der Holzkommode quietschten leise und für einen Moment hielt ich die Luft an, in der Hoffnung, dass mich niemand erwischen würde. Als ich ein gewöhnliches Kleid herausholte, fühlte sich der Stoff fremd und rau an meinen Fingerspitzen an. Doch für mich war es ein Gefühl der Freiheit. Ebenso nahm ich einfache Lederschuhe mit, die mir ein wenig zu groß waren, doch das sollte mich nicht aufhalten.

Zurück in meinem Schlafgemach, froh darüber, dass mich niemand gesehen hatte, ließ ich meine königlichen Kleider zu Boden gleiten und schlüpfte in die einfache, befreiende Garderobe. Es war, als könnte ich plötzlich richtig durchatmen. Keine Corsagen mehr, die meinen Körper zu dem formten, wie man mich sehen wollte. Der Anblick im Spiegel erfüllte mich mit Furcht, aber auch mit Euphorie. Die Tochter des Grafen war verschwunden und an ihrer Stelle trat eine Frau, die nach Eigenständigkeit strebte - so lebendig wie ein Vogel, der seine Käfigtüren aufbricht.

Der nächste Schritt erforderte Mut und Entschlossenheit und fiel mir ungemein schwer. Ich nahm einen Rucksack und füllte ihn mit dem Nötigsten - ein wenig Geld, Proviant, eine Karte, die für mich mehr Fragezeichen als Antworten enthielt. Das sanfte Rascheln der Blätter vor meinem Fenster verriet die tiefen Schatten der Nacht. Mit einem letzten Blick auf mein wohlbehütetes Zimmer und einem zögernden Lächeln stieg ich auf das Fensterbrett und kletterte hinaus.

Die Dunkelheit verschluckte mich, als ich mich leise über unser Anwesen schlich. Der weiche Rasen dämpfte meine Schritte und die Sterne begleiteten mich auf meinem Weg in die Unabhängigkeit. Ich schaffte es, unbemerkt die Grenzen unseres Grundstücks zu überqueren, doch der schmerzhafte Blick zurück ließ mein Herz schwer werden. Hier lag nicht nur mein Zuhause, sondern auch ein Ort der Geborgenheit - meine Familie, meine Wurzeln. Hier war ich groß geworden und hier lebten die Menschen, die ich liebte. Auch wenn mein Vater und ich nicht immer die gleiche Meinung teilten.

Jeder Schritt führte mich weiter weg von dem, was ich bisher gekannt hatte. Es war ein Schritt der Unsicherheit, ein zögernder Gang in eine ungewisse Zukunft. Die Flucht hinterließ ein zerrissenes Emotionschaos in meinem Innerem. Einerseits spürte ich die Erlösung. Die Luft der Unabhängigkeit atmete ich tief ein und ich wurde von einem Gefühl von Selbstbestimmung begleitet. Doch in dieser Freiheit vermischten sich auch Unsicherheit und Angst, die sich in mir breit machten. Die Stille wurde zu einem ständigen Begleiter und die Einsamkeit konfrontierte mich mit meinen innersten Ängsten.

Es entstand eine Spannung zwischen dem Verlangen nach meinen Wünschen und der Sehnsucht nach der vertrauten Geborgenheit meiner Familie. Tief in meinem Inneren rang ich mit den Konsequenzen meiner Entscheidung. Durchgefroren und übermüdet machte ich Rast auf einem Baumstamm. Doch der Weg in die Londoner Innenstadt lag dicht vor mir, das konnte ich spüren. Es würde nicht mehr lange dauern und ich hatte mein erstes Ziel erreicht.

Royal Escape (ONC 2024)Where stories live. Discover now