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Die Stunden nach dem Boxkampf waren geprägt von einer beunruhigenden Stille. Zwar wusste ich, dass es Henry gut ging, doch seine Distanziertheit nagte an mir. Er hatte sich gegenüber Albert und mir so förmlich verhalten, dass es mir keine Ruhe ließ. Und doch konnte ich sein Verhalten verstehen.

Am nächsten Morgen saß mein Bruder William im Salon und las ein Buch, während meine Schwester Victoria Klavier spielte. Er schaute auf, als ich eintrat. Seine Augen fokussierten sich sofort auf mich und ich konnte den fragenden Ausdruck darin erkennen.

"Elizabeth, wie war der Boxkampf?" William ließ sein Buch sinken und musterte mich genauer. Sein Blick voller Neugier.

Ich setzte mich ihm gegenüber und zwang mir ein Lächeln auf. "Interessant, könnte man sagen. Henry Jefferson hat beeindruckend gekämpft und am Ende hat er den Sieg errungen."

William hob skeptisch die Augenbrauen und fuhr sich mit der Hand durch seine braunen kurzen Locken. "Elizabeth, das ist nicht der Ort für eine Dame wie dich", sagte er ernst. "Boxkämpfe in einem abgeranzten Keller, Wetten und raue Männer - das ist nicht deine Welt. Du solltest dich mit deinen Freundinnen treffen, spazieren gehen oder deinen Hobbys nachgehen."

Ich seufzte leise, wissend, dass Williams Bedenken aus seiner Sicht verständlich waren. "Ich sagte bereits, dass es weitaus bessere Orte gibt, um jemanden kennenzulernen. Diese Kämpfe und Wetten sind gefährlich, Elizabeth. Du solltest dich nicht in solche Situationen begeben."

"Ich weiß, William. Erzähl unserem Vater bitte nichts davon. Er würde sich nur unnötig sorgen", bat ich ihn.

Er lehnte sich zurück und seufzte. "Das ist leichter gesagt als getan, Schwester." William stand auf und atmete tief durch. "Pass auf dich auf, Elizabeth. Du bist ein kostbarer Diamant und ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr begibst."

Ich lächelte ihm dankbar zu. "Ich werde vorsichtig sein, versprochen."

♕♕♕

Das heutige Teetreffen bei Lady Windsor versprach eine gesellschaftliche Veranstaltung voller Tratsch zu werden. Sie war bekannt für ihre Geselligkeit und ihre Fähigkeit, sich inmitten des neuesten Klatschs zu tummeln. Meine Mutter, Victoria und ich begaben uns in die elegante Residenz der Gastgeberin, wo schon zahlreiche Damen aus den gehobenen Kreisen versammelt waren.

In dem geschmackvoll eingerichteten Salon umhüllte uns der Duft von frisch aufgebrühtem Tee, als wir uns zu den anderen Frauen gesellten. Gespräche über gesellschaftliche Ereignisse, Neuigkeiten aus London und Modetrends füllten den Raum. Inmitten dieses eleganten Trubels bemühte ich mich, den Fokus auf die angenehmen Diskussionen zu legen.

Lady Windsor, eine Dame von imposantem Auftreten, ergriff das Wort und unterbrach die Unterhaltungen. "Meine Damen, habt ihr schon von diesem faszinierenden Boxkampf gehört, der vor Kurzem stattgefunden hat? Der junge Henry Jefferson hat einen beeindruckenden Sieg errungen, obwohl es heißt, dass eine gewissen Dame ihm den Kopf verdreht haben soll."

Ein lauter Seufzer ging durch die Runde, begleitet von gespannten Blicken. Meine Wangen röteten sich leicht. "Miss Lancaster", sagte Lady Windsor angeregt. "Man erzählt sich, Sie waren auch vor Ort."

"Das stimmt, ich war bei dem Boxkampf anwesend. Es war ein interessantes Ereignis", antwortete ich souverän, meine Unsicherheit hinter einem höflichen Lächeln verborgen.

"Aber ihr Herz scheint ja bei Albert Collingwood zu sein. Ein reizender Mann, nicht wahr?"

Ein Raunen ging durch den Raum, und ich spürte die intensiven Blicke der Damen, die auf mir ruhten. Nur meine Mutter und Victoria lächelten verhalten. Ich rang mich zu einer gefassten Antwort durch. "Albert Collingwood ist wahrlich ein guter Mann. Wir lernen uns weiter kennen und er war so freundlich, mich zu begleiten, um dieses außergewöhnliche Ereignis zu erleben."

Die Damen tuschelten untereinander und ich fühlte mich in diesem Augenblick wie das Zentrum eines Gesellschaftsskandals. "Es heißt, Albert Collingwood sei durchaus an einer ernsteren Verbindung interessiert. Dürfen wir erfahren, ob Sie eine Heirat in Erwägung ziehen?", erkundigte sich eine der Damen.

Meine Mutter, die bisher schweigend zugehört hatte, antwortete mit einer gewissen Souveränität. "Albert ist ein respektabler junger Mann. Es freut uns, dass er in Elizabeth eine gute Freundin gefunden hat. Doch was die Zukunft betrifft, lassen wir die Dinge auf uns zukommen." Das Thema wurde schließlich gewechselt, aber die neugierigen Gesichter blieben.

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Zurück im Schutz unserer Heimat, wagte ich einen Blick auf meine Mutter und Victoria. "Ich hoffe, das war nicht zu unangenehm für euch. Diese Spekulationen sind wirklich unnötig."

Meine Mutter lächelte beruhigend. "Liebes, die Gesellschaft liebt es, Geschichten zu spinnen. Du musst lernen, darüber zu stehen. Was zwischen dir und Albert ist, wird sich auf natürliche Weise entwickeln."

Victoria, meine jüngere Schwester, mischte sich ein. "Aber Vater hat ja bereits entschieden, wie sich die Lage entwickeln wird."

Ich seufzte und strich Victoria über ihr Haar. "Es ist kompliziert, Victoria. Ich weiß, dass Vater das gerne möchte. Aber noch gibt noch keinen Antrag und ich möchte nicht, dass die Menschen so schnell Schlüsse ziehen und uns in eine Richtung drängen."

Nach dem Abendessen suchte mich mein Vater im Salon auf. Der gediegene Raum mit seinen antiken Möbeln wirkte plötzlich nüchtern und ernst, als er eintrat. Er setzte sich auf den roten Polstersessel, der mit goldenen Ornamenten versehen war, und sah mich ernst an.

"Elizabeth, meine Tochter, wir müssen über etwas Wichtiges sprechen", begann er, und ich spürte, dass dieser Moment nichts gutes verheißen sollte. Sein Blick verlor sich kurz im Kaminfeuer, bevor er sich mir zuwandte. "Ich kann nicht leugnen, dass die jüngsten Ereignisse in der Gesellschaft für Gesprächsstoff sorgen. Insbesondere in Bezug auf dich, Elizabeth."

Ich senkte den Blick, ahnend, dass er auf meine Anwesenheit beim Boxkampf und das Teetreffen anspielte. "Verzeiht mir, Vater, wenn meine Handlungen für Unruhe sorgen."

Er seufzte. "Das ist nicht das eigentliche Anliegen. Ich bin eher besorgt über die Motivationen hinter deinem Verhalten, besonders in Bezug auf Albert Collingwood."

Ich hob den Blick, meine Augen trafen die seinen. "Vater, ich schätze Albert sehr, aber meine Meinung zu einer Heirat kennst du."

"Das ist es, was ich ansprechen möchte, Elizabeth." Sein Ton wurde sanfter. "Ich habe bemerkt, dass sich die Freundschaft zu ihm allmählich vertieft. Eine Liebesheirat ist nicht immer der Schlüssel zu einem erfüllten Leben. Eine wahre Freundschaft, die auf Respekt und Vertrauen basiert, kann oft mehr wert sein."

Ich schwieg einen Moment und ließ seine Worte auf mich wirken, bevor er weiter sprach. "Ich weiß, dass du dir eine Liebesheirat wünschst, aber wir müssen auch die Realitäten berücksichtigen. In letzter Zeit haben sich unsere finanziellen Umstände verschlechtert und die Zukunft sieht nicht so rosig aus wie früher."

Die Offenbarung traf mich wie ein Schlag. Ich hatte nicht gewusst, dass es um unsere Finanzen schlecht stand. Mein Blick suchte den seinen und ich legte meine Hand sanft auf seine. "Vater, warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?"

"Ich wollte dich nicht beunruhigen. Doch nun ist es an der Zeit, die Dinge klar anzusprechen. Eine Verbindung zu den Collingwoods könnte vieles ändern. Albert ist ein respektabler Mann, er würde dich auf Händen tragen und dafür sorgen, dass du ein erfülltes Leben hast."

Mir wurde schlagartig klar, warum er diese Entscheidung für mich gefällt hatte. Ich spürte einen inneren Konflikt in mir aufkeimen. Mein Traum von einer Liebesheirat stand im Widerspruch zu den finanziellen Realitäten meiner Familie. Zu meiner Zukunft.

"Ich wusste nicht, dass es so schlecht um uns steht."

Er streichelte meine Hand mit seinem Daumen und lächelte mich einfühlsam an. "Ich wollte dich beschützen, Elizabeth. Aber jetzt musst du eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Ich habe lange darüber nachgedacht und lasse dir hiermit frei, welchen Weg du einschlagen wirst. Dass du unglücklich bist, haben deine Mutter und ich nie gewollt."

Seine Worte erwärmten mein Herz. Doch die Situation war ein Dilemma, welches mir zuvor nicht bewusst war. Mein Blick wanderte ins Leere, während ich darüber nachdachte, welche Opfer ich bereit war zu bringen und welche Träume ich für das Wohl meiner Familie aufgeben konnte.

Royal Escape (ONC 2024)Where stories live. Discover now