|5|

42 8 7
                                    

Das Rattern von Kutschen und der Ruf der Händler vermischten sich zu einem lebendigen Hintergrundgeräusch, während ich die belebten Straßen Londons erkundete. Die Vielfalt der Menschen, ihre Geschichten und Lebensweisen faszinierten mich.

In einer schmaleren Straße abseits des prächtigen Zentrums fiel mein Blick auf eine Gruppe von Arbeitern, die sich um eine riesige Baustelle versammelt hatten. Der Lärm von Hämmern und das Klirren von Eisen erfüllten die Luft. Ein älterer Herr, dessen Hände von harter Arbeit gezeichnet waren, trat aus der Menge hervor.

"Guten Tag, Miss. Ihr scheint nicht von hier zu sein. Was führt Euch in diese Ecke Londons?", fragte er mit freundlicher Neugier. Ich hatte bereits befürchtet, dass man mir ansah, dass ich fremd in dieser Gegend war - trotz meiner Verkleidung.

"Guten Tag. Mein Name ist Elizabeth. Ich bin hier, um die Stadt zu erkunden und ihre verschiedenen Facetten kennenzulernen", antwortete ich höflich.

Der Arbeiter nickte verständnisvoll. "Nun, Miss Elizabeth ... London hat viele Geschichten zu erzählen, und nicht alle sind so glanzvoll wie in den Adelsvierteln."

Er führte mich näher zur Baustelle, wo Arbeiter emsig an einem Gebäude arbeiteten. Ich wagte es, einen der Männer anzusprechen, der gerade mit Zement hantierte. "Entschuldigen Sie die Störung. Mein Interesse gilt Ihrer Arbeit. Könnten Sie mir erklären, was Sie hier machen?"

Der junge Arbeiter mit den dunklen Haaren schaute auf und lächelte. "Natürlich, Miss. Wir errichten dieses Gebäude, das bald ein Zuhause für viele Londoner sein wird. Harte Arbeit, aber es gibt uns ein Gefühl von Stolz und Gemeinschaft."

Er erzählte von den Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert waren - von langen Arbeitstagen, niedrigen Löhnen und den bitteren Kämpfen, ihre Familien zu versorgen. Die Geschichten dieser Männer öffneten mir die Augen für eine Welt, die ich bisher nur aus sicherer Entfernung betrachtet hatte.

Ich erkannte, dass meine Möglichkeiten, die Situation der Arbeiter möglicherweise zu verbessern, begrenzt waren. Der Gedanke an eine Rückkehr zu meiner Familie und somit eine mögliche Heirat mit Albert Collingwood, schien die einzige Aussicht auf eine positive Veränderung für sie zu sein. Die Entscheidung wog schwer in meinem Magen.

Nach meinem Rundgang durch die Arbeitergegenden suchte ich Zuflucht in einem gemütlichen Wirtshaus. Die Atmosphäre war herzlich und ich teilte den Tisch mit einer Gruppe von Frauen, die, so schien es, ihre Mittagspause genossen. Unter ihnen war eine ältere Dame, Mrs. Miller, die mir von ihrem Leben erzählte.

"Miss Elizabeth, hier in den Arbeitervierteln kämpfen wir oft um das Nötigste. Viele von uns sind hart arbeitende Familien und müssen jede Münze zweimal umdrehen", sagte sie mit Resignation in ihrer Stimme.

Ihre Worte berührten mich tief, und ich verspürte den Wunsch, mehr zu tun, als nur zuzuhören. Ich entschloss mich, tiefer in die Gemeinschaft einzutauchen, um ihre Geschichten nicht nur zu verstehen, sondern auch zu teilen. Mitleid keimte in mir auf und ich schämte mich, dass ich mich über mein eigenes Leben beschwerte, obwohl es mir an nichts fehlte. Ich war sicher, dass mein Vater und William recht hatten. Albert Collingwood wäre bestimmt ein guter Gatte, doch eine Ehe ohne Liebe kam für mich einfach nicht in Frage.

Am Abend, während ich am Ufer der Themse entlang spazierte, erblickte ich eine vertraute Gestalt, die unter einer Laterne stand. Die markante Narbe über seiner Augenbraue schimmerte leicht. Es war der unbekannte Mann aus dem Pavillon, mit dem ich auf dem Ball der Collingwoods unterhalten hatte. Das matte Licht umspielte seine zerzausten, dunklen Haare. Die Erinnerung an unser Gespräch weckte Neugier in mir.

"Guten Abend. Was für ein Zufall, Sie hier zu treffen. Wie geht es Ihnen?", begrüßte ich ihn freundlich.

Er lächelte überrascht. Seine sturmgrauen Augen waren wie ein lebendiges Gewitter, voller Energie und intensiver Ausdruckskraft. Die schattenhaften Konturen seiner maskulinen Statur hoben sich im gedämpften Licht ab und seine Haltung verlieh ihm Stärke und Selbstbewusstsein.

"Welch angenehme Überraschung. Mir geht es gut, vielen Dank. Und Euch scheint die Erkundung Londons Freude zu bereiten."

"In der Tat. Ich bin übrigens Elizabeth Lancaster", stellte ich mich vor. Mein Nachname schien ihm bekannt vorzukommen.

"Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Henry Jefferson. Erlaubt mir die Frage, Miss Lancaster, aber ist es nicht viel zu spät für einen nächtlichen Besuch in dieser Gegend?"

Ich ignorierte seine Frage und bat ihn stattdessen, sich mit mir auf eine nahegelegene Bank zu setzen. Dort erzählte ich Henry von meinen Erfahrungen in den Arbeitervierteln, von den Menschen, die ich getroffen hatte und von der Faszination für das Leben in all seinen Facetten. Er hörte aufmerksam zu, doch als ich verstummte, wirkte er nachdenklich. "Die Geschichten der Arbeiter werden oft übersehen. Es freut mich zu hören, dass Ihr Euch die Zeit nehmt, sie zu verstehen."

Durch unsere Unterhaltung erkannte ich, dass die Begegnung mit Henry nicht nur ein Zufall war. Vielmehr schien es, als hätte das Schicksal uns verbunden, um gemeinsam die verschiedenen Seiten Londons zu entdecken - von den noblen Vierteln bis zu den bescheidenen Straßen der Arbeiter. In ihm fand ich nicht nur einen Verbündeten, sondern auch einen Freund.

♕♕♕

Die Sonne ging gerade auf, als ich durch die Straßen Londons schlenderte, die sich langsam zu füllen begannen. Meine Gedanken waren wie ein unruhiges Meer, weshalb ich in dieser Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte. Viel zu sehr beschäftigte mich das alles. Ich war geflüchtet, um Entscheidungen selber treffen zu können, doch viel mehr bewegte mich das Schicksal der Arbeiter.

Plötzlich erblickte ich Henry Jefferson, den Gentleman, den ich gestern bereits getroffen hatte. Sein überraschtes Lächeln begrüßte mich. "Miss Lancaster, wie angenehm, Euch wiederzusehen." Er erzählte, dass er auf dem Weg zur Arbeit sei, aber noch Zeit für einen kurzen Spaziergang habe.

"Miss Lancaster, ich habe bemerkt, dass Ihr schon wieder alleine unterwegs seid. Warum seid Ihr nicht bei Eurer Familie?"

Seine Frage traf mich unvorbereitet und für einen Moment stockte meine Antwort. "Oh, meine Familie und ich haben einige Meinungsverschiedenheiten. Ich dachte, etwas Abstand könnte uns allen guttun."

Henry betrachtete mich durchdringend. "Manchmal ist Abstand notwendig, aber Familie ist wichtig. Warum sprecht Ihr nicht offen mit ihnen über Eure Gefühle?"

Ich seufzte leise. "Es ist kompliziert. Es gibt Dinge, die sich nicht einfach so klären lassen. Es ist schwer, alles zu erklären."

Mit einem aufmunternden Lächeln sah er mich an. "Manchmal ist es besser, die Wahrheit auszusprechen."

Ich spürte die Wärme seiner Geste, aber ich hatte bereits die Wahrheit vor meinem Vater ausgesprochen und die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass ich nicht gehört wurde. "Ich werde darüber nachdenken, Mister Jefferson. Vielen Dank. Aber genug von mir, wie sieht Euer Arbeitstag aus?"

Wir setzten unseren Spaziergang fort und vertieften uns in eine angenehme Unterhaltung. Henry erzählte von der Arbeit bei den Collingwoods, wo er hauptsächlich in der Küche mithalf. Aber auch von seinen Interessen und Abenteuern berichtete er. Ich versuchte, mich in den Geschichten zu verlieren, doch seine Worte hallten in meinem Kopf wider und ich konnte nicht vergessen, was er gesagt hatte. Dass es manchmal besser war, die Wahrheit auszusprechen. Vielleicht gab es doch noch eine Chance, dass mein Vater mich verstehen würde. Sie suchten mich bestimmt und machten sich Sorgen. Wenn ihm das Ausmaß seiner Entscheidung vorher bewusst gewesen wäre - hätte er dann womöglich anders gehandelt?

Die Sonne glänzte bereits hell am Himmel, als Henry sich von mir verabschiedete. "Ich hoffe, dass Ihr über meine Worte nachdenkt. Lasst Euch nicht von der Vergangenheit gefangen halten."

Ich dachte noch eine Weile über seine Worte nach und konnte die Wahrheit nicht länger ignorieren. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, mich noch einmal meinem Vater zu stellen. Auch wenn es schmerzhaft war und vermutlich rein gar nichts brachte.

Royal Escape (ONC 2024)Where stories live. Discover now