Kapitel 22: Zuflucht

4 1 0
                                    

»Ah, du bist wach«, meinte ich, als das Mädchen sich unter mir regte.

Wir waren in einem der Nebenräume des Tempels auf einer Steinliege. Sie lag auf meinem Schoß, da es sonst keine weiche Unterlage gab. In einer Ecke brannte eine kleine Öllampe aus meiner spärlichen Abenteurerausrüstung und die einzige Decke, die ich besaß, lag über ihren schmächtigen Körper.

Ihre Gesichtszüge verzogen sich und ihr Muskeln wurden kurz steif, als sie aufwachte. Sie blinzelte einige Mal, nicht recht begreifend, wo sie war. Sie schaute auf in meine dunkelgrünen Augen.

Für eine Weile sahen wir uns einfach nur an.

»Bin ich tot?«, fragte sie schließlich und ihre Stimme verriet, dass es ihr gleich war, wenn ich bejahte.

»Du warst an der Türschwelle des Todes und wirst ab jetzt auch immer an der Grenze zum Nichtsein verharren... aber für den Moment ist noch Leben in dir.«

Als sie mich sprechen hörte, schien sie langsam die Situation mehr und mehr zu erfassen. Sie riss ihre Augen auf und wollte sich aufrichten. Doch behutsam drückte sie wieder hinab auf meinen Schoß.

»Wo sind wir?«

»An einem sicheren Ort«, antwortete ich.

»Wir sind geflohen aus den Ländereien des Grafen?«

»Sind wir.«

»Sie werden uns finden.« Sie sagte es so, als wäre es eine Feststellung.

»Nein werden sie nicht. Wie ist dein Name?«

Sie schwieg einige Sekunden. »Cecilia.«

»Cecilia also? Ich bin Nilim. Hast du noch Verwandte? Eltern?«

Sie legte den Kopf zur Seite, sodass sie ihr Gesicht gegen meinen Bauch drückte. Sie wollte mich wohl nicht weiter ansehen. »Alle tot. Krankheit. Die schwere Arbeit. Die Sklaventreiber zeigten keine Gnade, egal wie schwach man ist. Man arbeitet oder man wird zu Tode gepeitscht.«

»Eine Verschwendung von Energie«, sagte ich und meinte dabei die Sklaventreiber. Anstatt sinnlos einen Halbtoten weiter auszupeitschen, wäre es besser den betreffenden Sklaven einfach die Kehle durchzuschneiden.

Cecilia schien die Bemerkung nicht zu hören und redete weiter. »Aber es ist egal. Sie werden andere bestrafen, weil ich weg bin. Andere werden wegen mir leiden.«

Ich spürte, wie ihr Körper sich anspannte und so wie meine Mutter in dieser Welt mir manchmal über die Haare strich, so tat ich nun auch bei ihr. »Wenn jemand schuldig ist, dann ich. Immerhin habe ich dich fortgeholt. Ich erwarte auch keinen Dank von dir. Wärst du denn gerne tot?«

»Ich weiß nicht.«

»Nein?«

Ein langes Schweigen stellte sich ein. Die Flamme flackerte etwas. Ich begann mit ihren nussbrauen Locken zu spielen. Das Ganze hatte durchaus etwas Beruhigendes an sich und ich merkte auch, wie sie selbst etwas friedlicher wurde.

Schließlich drehte sie sich wieder und schaute wieder zu mir auf. Ihre blauen Augen waren etwas wässrig und sie schien den Tränen nah. Aber der Blick selbst war klar und fest.

»Ich will Leben«, antwortete sie dann. »Schon immer wollte ich leben.«

»Das freut mich zu hören.«

»Doch was wird nun aus mir? Was soll ich tun?«

»Wenn du willst, können wir zurückkehren und den anderen helfen.«

»Den anderen?«

»Die restlichen Sklaven. Dabei kann ich dir nämlich einige Dinge zeigen. Du bist nämlich jetzt gesegnet.«

»Gesegnet? Und den anderen helfen? Wie? Der Graf ist mächtig und hat viele Männer unter sich.«

»Das sollte kein Problem sein. Guck hier.«

Ich warf die Decke zurück und Cecilia schaute ihren Körper herab. Doch anstatt ihrer jungen, von der Sonne leicht gebräunten Haut, lag beinahe über ihren gesamten Leib eine dunkle, sich windende Schicht von der Konsistenz dickflüssigen Öls, die sich ständig wellenförmig verschob.

Sie begann zu schreien.


Das Wispern aus dem AbgrundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt