Kapitel 2: Der Abgrund

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Mein Körper löste sich auf, zerrissen vom Licht der Maschine. Doch meine Gedanken blieben – an einem seidenen Faden hängend.

Zeit verlor seine Gültigkeit. Ich verblieb in einer grenzenlosen Schwärze für kaum mehr als eine Millisekunde oder für viele Jahrmilliarden. Der Unterscheid zwischen beiden Zeitskalen verlor sich in Bedeutungslosigkeit. Nichts spürte ich. Nichts konnte ich greifen. Kein Laut und Geruch.

Meine Erinnerungen waren Fetzen, die kurz aufblitzten und es war, als würden auch sie sich demnächst ins Nirgendwo entfleuchen.

Doch dann wurde ich aus dem Nichts gezogen und ich spürte wie sich eine neue Realität um mich bildete. Es war wie die wärmste Umarmung einer Mutter und ich konnte mein Ich ordnen. Ich war an einem Ort, an einem Irgendwo.

Mit großer Neugier fragte ich mich, ob ich das Nachleben erreicht hatte.

Ein Licht bildete sich langsam, aber stetig, unter mir aus.

Graue Wolken umgaben mich dann.

Ich war hoch in einem Himmel.

Doch ich fiel nicht.

Mehr glitt ich hinab und da ich keinen Körper hatte, fürchtete ich keinen Aufprall.

Graue Hänge, Berge und vereinzelte dürre Bäume.

Wann war das letzte Mal, dass ich Pflanzen jenseits von Gewächshäusern gesehen hatte?

Der Fels verschlang mich. Tief unter die Erde wurde ich gezogen.

Schließlich erreichte ich eine Kammer ohne Türen. Ein winziger, nervöser und zögerlicher Lichtschein erhellte das Nötigste. Viel war in Düsternis gehüllt.

Vor mir stand eine junge Frau in einem See aus Schwärze. Ihre Haut blas und ihr einfaches Kleid verschmutzt. Ihr langes Haar war wie Schatten und die Strähnen fielen hinab in die Finsternis.

Ihr leicht gesenktes Gesicht war kaum erkennbar und nur ihre weichen, rosa Lippen stachen hervor.

In Schweigen standen wir uns gegenüber. Im Hintergrund hörte ich ein leichtes Tropfen.

Meine Augen blieben auf sie gerichtet. In mir war kein Wille mich umzusehen.

Für mich war sie nämlich der schönste Anblick, den ich jemals genießen dürfte. Die Art, wie die Dunkelheit mit ihrer weißen Haut kontrastierte. Ihre zierliche Figur. Die Ruhe, die von ihr ausging wie ein Vibrieren. Mein ganzes Wesen wurde erfasst.

Keine Frage wollte ich stellen.

Keine Verwunderung verspüren.

Kein Wille zur Flucht ergriff mich.

In ihrer Nähe wusste ich, dass alles an seinem Platz war und seine Richtigkeit hatte.

Ihr Blick hob sich leicht. Das Licht flimmerte.

Sie war fort.

Obwohl? Nein. Falsch. Sie war noch hier. Nun stand sie neben mir. Ihr wunderbarer Mund an meinem Ohr oder zumindest den Ort, wo normalerweise Ohren sein sollten. Noch schien ich keinen wirklichen Körper zu haben.

Sie begann zu flüstern.

Alles, was ich wissen musste, flüsterte sie mir zu. Meine neue Aufgabe. Mein neues Ziel. Mein neues Schicksal.

Meiner Seele war noch keine Ruhe vergönnt.

Die Kammer verschwand.

Ich öffnete meine neuen Augen. Über mir war ein Dach aus Stroh, mit einer herabhängenden Lampe um der die Insekten schwirrten. Im Hintergrund hörte ich das laute Schreien eines wütenden Mannes. In den Armen einer Frau wurde ich sanft vor- und zurückgeschaltet.

Ich war wiedergeboren in einer neuen Welt.

Einer Welt, die auch meiner Hilfe bedürfte, um eine Zukunft zu besitzen.

Das Wispern aus dem AbgrundWhere stories live. Discover now