"Das hier ist ein Teil meines Lebens, den ich Euch zeigen wollte. Es mag nicht der glamouröseste Weg sein, aber manchmal müssen Menschen ungewöhnliche Entscheidungen treffen, um zu überleben."

Ich ließ seine Worte sacken und nickte nachdenklich, als ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir wahrnahm. "Elizabeth!"

Schnell drehte ich mich herum, meine Augen suchten panisch die Menge ab, bis ich meinen Bruder William sah. Er hatte mich gefunden.

"Wir müssen hier weg!", rief ich Henry zu und griff nach seiner Hand. Er zögerte einen Moment, dann folgte er mir, als ich mich durch die Menschenmasse schlängelte. William lief uns hinterher, doch wir gingen in der Menge unter. Ich konnte nicht riskieren, dass er mich fand. Nicht jetzt.

Endlich erreichten wir die Tür. Ich stieß sie auf, um ins Freie zu gelangen. Der kalte Wind peitschte mir ins Gesicht, als wir uns hinaus in die Nacht stürzten. Mein Atem kam stoßweise, mein Herzschlag glich einem wilden Trommeln in meiner Brust. Ich drehte mich immer wieder um, doch William war nirgends zu sehen.

"Henry, schneller!", rief ich erneut und zog ihn hinter mir her, während wir uns durch die dunklen Straßen kämpften, die mir wie ein Labyrinth erschienen. Fremd, endlos und verwirrend. Die Laternen warfen flackernde Schatten auf den Boden und ich fühlte mich wie eine Figur aus einem Alptraum, die durch eine unwirkliche Landschaft flieht.

Wir fanden schließlich einen kleinen Park, verlassen und still. Henry zog mich in den Schutz der Bäume, und wir ließen uns zwischen den dichten Büschen nieder. Mein ganzer Körper bebte vor Anspannung und auf meiner Stirn bildete sich kalter Schweiß.

"Elizabeth, was ist passiert?", flüsterte Henry, seine Stimme unsicher, aber ruhig.

"Henry, es tut mir leid, aber mein Bruder ... Er hat mich gefunden. Ich muss hier bleiben, bis die Luft wieder rein ist", erklärte ich leise und spielte nervös mit meinen zittrigen Händen.

"Alles wird gut."

Wir saßen still da, umgeben von Dunkelheit und Stille. Ich spürte die Angst in mir aufsteigen, wie eine dunkle Welle, die mich zu verschlingen drohte. Aber Henrys Nähe beruhigte mich und gab mir Kraft.

Mir war bewusst, dass es das letzte war, was sich für eine Dame gehörte. Nachts in einem Busch zu sitzen und dann auch noch mit einem fremden Mann, der nicht mal für eine Heirat in Frage kam, da wir in unterschiedlichen Welten lebten. Doch ich hoffte inständig, dass mich niemand sehen würde. Schon gar nicht mein Bruder William.

Wie konnte er mich finden? Warum war er in diesem Keller? Schaute er sich regelmäßig Boxkämpfe an? Wettete er womöglich sogar selbst? Oder hatte er einfach nur das richtige Gespür gehabt, als er mich gesucht hatte?

Minuten kamen mir wie Stunden vor, in denen wir es nicht wagten, uns zu bewegen. Plötzlich hörte ich Schritte, gedämpft und unregelmäßig. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als sich die Gestalt näherte. Doch es war nur ein Parkbesucher, der den Weg entlang spazierte und uns nicht wahrnahm. Ich atmete erleichtert aus, die Anspannung ließ jedoch nicht nach.

Hätte mein Bruder mich gefunden, hätte er nicht zugelassen, dass ich hier blieb. Und wenn er von Henry und unserer Freundschaft wüsste, würde er diese auch nicht gutheißen.

Alles was ich brauchte war Zeit. Um selbst herauszufinden, was ich wirklich wollte und wie wichtig meine Träume und Wünsche waren. Ich wusste, dass William Verständnis hatte, doch er sorgte sich ganz bestimmt auch. So wie die anderen.

Was blieb, war ein Gefühl der Unsicherheit, welches sich in meinem Magen breitmachte. Der Gedanke an meine Familie weckte gemischte Emotionen in mir. Doch die Notwendigkeit, meinen eigenen Weg zu gehen und meine Gedanken zu klären, überwog vorerst jede Sehnsucht nach Heimat. Der Weg vor mir war ungewiss und ich konnte nur hoffen, dass die Zeit die Wunden heilen würde, die ich zu verbergen versuchte.

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als Henry und ich endlich aus dem Gebüsch heraustraten. Es kribbelte und kratzte mich überall und ich fühlte mich unwohl. Als wir im Lichtschein einer Laterne standen, sah ich, dass Henrys Stirn blutete. "Henry, das muss behandelt werden", drängte ich besorgt und zog ein sauberes Taschentuch aus der Tasche.

"Ist schon in Ordnung. Ein paar Blessuren gehören dazu." Sein Lächeln wirkte gequält und ich konnte die Anspannung zwischen uns förmlich spüren. Ohne weitere Worte führte ich ihn zu einer Bank, damit ich sein Gesicht behutsam abtupften konnte.

"Wie schaffst du das nur, Henry?", fragte ich schließlich leise. Er seufzte tief, bevor er antwortete. "Man tut, was man tun muss. Im Ring gibt es keine Regeln - außer Überleben. Wie im richtigen Leben auch."

Seine Worte hingen in der Luft und ich spürte, wie sich etwas zwischen uns veränderte. In diesem Moment war es nicht nur die blutige Wunde auf seiner Stirn, sondern etwas intensiveres, das zwischen uns knisterte - eine Verbindung, die ich nicht mehr ignorieren konnte.

♕♕♕

Die gemeinsame Zeit mit Henry wurde zu einem kostbaren Teil meines Lebens. In seiner Nähe fand ich Trost und Verständnis, aber zugleich spürte ich eine stetig wachsende Sehnsucht nach meinem eigentlichen Zuhause, meiner Familie.

"Ehrlich, Henry, du bist ein einzigartiger Mensch. Ich schätze die Zeit, die wir zusammen verbringen", sagte ich, als wir an einem ruhigen Abend am Ufer der Themse saßen.

Lächelnd sah er mich mit seinen grauen Augen an. "Elizabeth, du bist auch etwas Besonderes für mich. Die Zeit mit dir bedeutet mir wirklich viel."

Er griff nach meiner Hand und strich nur ganz kurz mit seinem Daumen über meinen Handrücken, aber es reichte aus, dass mir warm ums Herz wurde. Ich spürte, wie es in meinem Bauch kribbelte. Seine ehrlichen Worte berührten mich, und doch konnte ich die Tatsache nicht länger ignorieren, dass ein Teil meines Herzens noch immer bei meiner Familie verweilte. "Ich vermisse sie. Jeden Tag wird die Sehnsucht nach meinem Zuhause stärker."

Seine Miene wurde ernst und er nahm seine Hand von mir. Den Blick auf den Boden gerichtet. "Ich verstehe. Familie ist das wichtigste, Elizabeth."

Um meinen Dank und meine Anerkennung für Henry auszudrücken, überreichte ich ihm eine wertvolle Taschenuhr, ein Erbstück meines Großvaters. Als ich sie bei meiner Ankunft im Gasthaus in meinem Rucksack entdeckte, wusste ich, dass sie für einen besonderen Menschen bestimmt war. William musste sie bei seinem letzten Ausflug darin vergessen haben.


"Diese Uhr gehört seit Generationen unserer Familie. Ich möchte, dass du sie behältst. Als Zeichen meiner Freundschaft und meiner Dankbarkeit."

Er nahm die Uhr in die Hand und betrachtete sie genauestens. Sein Blick zeigte eine tiefe Rührung. "Elizabeth, das kann ich nicht annehmen. Das ist zu viel. Du musst mir nichts schenken. Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt."

"Genau das macht es besonders. Du warst da, als ich dich gebraucht habe und dafür möchte ich dir danken", erwiderte ich aufrichtig. "Bitte nimm sie."

Er nahm sie an sich und behandelte sie wie einen kostbaren Diamanten. Die Taschenuhr wurde zu einem Symbol unserer Freundschaft, und Henry trug sie mit Stolz. Und ich konnte beruhigt zu meinem richtigen Zuhause zurückkehren. Es war nicht perfekt, aber es war mein Zuhause mit all den Menschen, die ich liebte.

Royal Escape (ONC 2024)Where stories live. Discover now