Kapitel 64

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Ich beobachte mit pochendem Herzen, wie die Klinke hektisch heruntergedrückt wird. Immer wieder und wieder. Es erinnert mich an alte Zeiten meiner Kindheit. Der Junkie hatte anfangs auch so an meiner Türklinke gerüttelt. Ich begann schon früh, meine Tür abzuschließen und die Klinke kontrollierend herunterzudrücken. Früher drei- bis fünfmal, heute habe ich mich gebessert. Nur kann ich nicht einschätzen, inwieweit ich wieder in alte Züge verfalle. Wo soll ich hin? Ich habe nirgends meine Ruhe. Ich bin gefangen, ich muss fliehen. So sehr mein Körper sich auch weigert, weil mein Herz in seinen Händen liegt, muss ich gehen. Ich habe ihm einmal für einen Fehler verziehen und wenn ich es auch dieses Mal mache, werde ich wie meine Mutter enden. Ich kann das nicht. Meine Kindheit hat mir den Kinderwunsch verdorben und eine Angst in meinen Kopf gesetzt, mich vollständig zu binden. Zu jeder Person besitze ich eine gewisse Distanz, sodass ich bei emotionalen Geschehnissen oft nicht weine oder es mich überhaupt nicht nahegeht. Weil ich nicht kann. Weil ich es mir verwehre. Und dann ist da Azad ... meine Tränen steigen auf. Ich verachte ihn dafür, dass er es geschafft hat. Ich fühle mich erbärmlich, schwach.

"Avin, mach die Tür auf!" Wie soll ich fliehen? Ich schaue verzweifelt zum Fenster, aber ich bin nicht derart lebensmüde, dass ich mich aus dieser Höhe schmeiße. Mein Handy ist unten, also kann ich nicht einmal meiner Mutter oder Schwester schreiben. Ich ... ich bin am Ende. Mich überkommen Vorstellungen, wie Azad mich immer weniger ernst nimmt. Wie er mir Dinge verspricht und diese nicht einhält. Wie er meine Sorgen nicht berücksichtigt ... nein. Ich muss gehen. Ich ziehe mir die dickste Jacke über, die ich besitze, nehme mein Asthmaspray und Messer, ehe ich mit rasendem Herzen und schwitzendem Körper die Tür aufschließe. Mein Bauch dehnt sich, als ich Azads besorgten Augen sehe. In mir macht sich der Drang breit, in seine Arme zu fallen und nach einem friedlichen Weg zu suchen und selbst dafür hasse ich mich, weil ich sonst immer gut mit Distanz und Schweigen zurechtkam. Ich muss stoisch bleiben. Ich darf keine Gefühle zeigen. "Avin, wohin?" "Weg", antworte ich kalt. "Wohin, Avin? Allein wirst du das Haus nicht verlassen." Das ist mir egal. Ich habe keine Kraft, mit ihm zu reden.

Azad fängt mich noch vor der ersten Treppenstufe wieder ein. Sein Blick zeigt gemischte Gefühle. Er ist verwirrt, überfordert, nahezu verängstigt. Ich wünschte, ich könnte diese Emotionen normal und gesund deuten, aber ich bin geplagt von Misstrauen. Ich habe oft genug gesehen, wie der Junkie damit gelogen hat, um davonzukommen und auch wenn es nur eine einzige Person war, übertrage ich es auf alle. Auf alle, weil er bei all den vielen Menschen mit diesen Lügen durchgekommen ist. Ich kann nicht anders. "Avin, ich flehe dich an, du musst mir glauben! Ich schwöre auf den Koran. Ich werde alles tun, um es dir zu beweisen." Ich wende den Blick ab. Genau das gleiche, gerade zu dasselbe Spiel wie mit dem Junkie. Selbst auf den Koran hat er geschworen und weiterhin furchtlos gelogen. Ich versuche mich aus seinem Griff zu befreien, wodurch er sich nur verstärkt, aber auch meine Wut intensiviert. "Lass mich los, du Ekliger!" "Avin, du musst zur Vernunft kommen!" "Sagt der Drecks-Koksdealer." "Ich habe niemandem Koks verkauft!", schreit er verzweifelt. "Lass mich gehen." "Nein, Avin." Ich spüre nach Langem wieder ein verhasstes Gefühl in mir auftreten. Das Gefühl der Kontrolllosigkeit. Sowohl die meiner Contenance als auch die meines Umfeldes. Ich könnte jetzt durchdrehen und daraufhin weinend zusammenbrechen.

"Lass mich gehen", flüstere ich den Tränen nahe. Sollte ich jetzt meine Stimme erheben, könnte man meine Trauer heraushören. Die sensible Form meiner Wut. Der hohle Unterton in meiner Stimme, weil es mir zu viel wird. Weil ich in diesem Frust ertrinke. "Avin", setzt Azad sanft an. Seine Hände umschließen meine Wangen, um mich näher an sein Gesicht zu ziehen, doch ich drücke meine gegen seine Brust. Ich kann das nicht, so sehr mein Herz es auch möchte. "Avin, bitte. Du musst dich beruhigen. Du darfst nicht aus Emotionen handeln, so verständlich es auch ist. Ich mache alles für dich, nur bleib hier. Das ist gefährlich." Ich schaue ihn verzweifelt an, viel zu benommen und geplagt vom Gefühl des Verrats. "Avin, dir kann jederzeit etwas zustoßen. Ich kann dich nicht gehen lassen. Du bist eine wunderschöne und kluge Frau, die immer wieder zeigt, dass sie rational handeln kann. Ich flehe dich an, geh nicht." Ich ... ich kann nicht. Ich habe Angst. Ich bin gerade nicht rational. "Man kann nie zu einhundert Prozent rational denken." Sein Ausdruck zeigt pure Enttäuschung und fast will ich deswegen verächtlich lachen. Ich war fünfzehn Jahre in einem Teufelskreis gefangen. Die Angst, erneut und viel schlimmer gefangen zu sein, wird immer größer. Ich drücke mich deswegen an ihm vorbei, muss mich mit aller Kraft die Treppen hinunterzerren, weil Azad mich festhält.

Durch den Weg deines HerzesWhere stories live. Discover now