Kapitel 2

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Meine überzogene Schicht ist zu Ende. Ich kann von Glück reden, dass das medizinische Personal unterbesetzt ist, dass mir wirklich die Chance gegeben ist, vor der Realität zu fliehen. Ich habe auch mikroskopiert und mit Freuden einige Bilder für meine Sammlung an mikroskopischen Herzen schießen können. Immer, wenn ich in einem Gewebepräparat oder in Blutausstrichen herzförmige Morphologien erkenne, muss ich ein Foto machen. Das ist eines der Dinge, die mich zufriedenstellt, auch wenn ich immer die Luft anhalten muss, bevor ich das Foto schießen kann. "Avin?" Ich hebe den Blick zu meinem Chef an. "Ich muss langsam schließen. Kommst du?" Ich nicke, schalte wortlos das Mikroskop aus und hänge dann meinen weißen Kittel auf. Ich weiß noch, wie sehr ich mich gefreut habe, endlich welche zugestellt zu bekommen. Wie glücklich ich in diesem einen Moment war. Ich habe mich gefühlt wie eine Ärztin, die ich schon immer sein wollte. Für meine Familie bin ich es, aber das reicht mir nicht. "Und? Spannende Herzen im Präparat gefunden?" Ich lächele sanft. "Die Niere enttäuscht mich nie mit ihren Sammelrohr-Herzen." "Ich sollte meiner Frau eine Valentinskarte mit einem deiner hundert Nierenherzen schicken. Sie wird sich freuen." Wie gerne ich dieses Leben als Ärztin wie seine Frau hätte. Ich würde mich prächtig darüber freuen und sie niemals wegschmeißen. Aber so wie es den Anschein hat, schaffe ich es trotz Qualifizierung nicht. Ich verabschiede mich fast tonlos von meinem großen Chef, ehe ich in die entgegengesetzte Richtung laufe.

Heute will ich laufen. Es herrschen immer noch elf Grad und ich will lange Musik hören. Das Spazieren hat mir auch eine kleine Zuflucht vor der Monotonie und dem Stress zu Hause geboten. Ich kann in meinem Kopf die Szenarien leben, die ich wahrscheinlich nie erleben werde oder vielleicht in zehn Jahren. Vor allem bei Dunkelheit liebe ich das Spazieren, nur kann ich das seltener tun. Auf dem Weg nach Hause passiert mir nie was, aber das liegt daran, dass die ganzen Junkies und weiteren Versagertypen meinen Junkiebruder kennen und - warum auch immer - vor seiner Clownsgestalt Respekt haben. Bei dem herabgelassenen Niveau ist es kein Wunder, wieso man solche Ansprüche hat. Außerdem trage ich immer ein Messer bei mir, denn auch wenn ich ein kleines Privileg besitze, traue ich keinem dieser ekelhaften Gestalten und in der Siedlung, in der ich lebe, sind genug von ihnen. Genug solcher Enttäuschungen und genug arme müde Eltern, die schneller grau und erblasst sind, als es ihnen lieb ist. Ich wünsche ihnen alle eine beruhigte Seele und die Rechtleitung ihrer verkorksten Kinder. Heute nehme ich einen Umweg. Wenn ich das tue, dann nur durch die Siedlung der Einfamilienhäuser. Hier ist es sicher. Hier leben die reichen, privilegierten Menschen mit genügend Sicherheitskameras. Zudem leistet mir das ruhige Brennen der Lichter in den schönen Häusern Komfort. Eines Tages würde ich auch so ein Haus haben. Mit meinen Eltern und meinen Schwestern, wenn sie bis dahin nicht alle verheiratet sind.

Ich bleibe einen Moment lang auf der breiten Straße stehen, nur um den Moment der Ruhe genießen zu dürften. Die sanfte Brise, die Lichter der Straßenlaternen und der Schein des Vollmondes. Ich spüre, wie mir die Emotionen hochkommen wollen, unterdrücke sie, doch als ich die Tränenflüssigkeit in meinen Augen spüre, weiß ich, dass es zu spät ist. Ich will nicht weinen. Meine Lage könnte schlimmer sein, aber ich will nicht in dieser Lage sein, die seit Jahren unverändert bleibt. Ich würde mich sogar freuen, wenn ich einfach nur meine Ruhe hätte. Nur das! Ich will nur alleine in einer Wohnung leben, dann wären die meisten meiner Sorgen für mich persönlich abgehakt. Ich hasse die Monotonie, in der ich gefangen bin, auch wenn ich am Tag die eine oder andere Sache miterleben darf, die mir doch ein Lächeln ins Gesicht zaubert, aber es füllt mich nicht. Meine Seele sehnt sich nach mehr. Nach anderem. Wenigstens das Studium! Wenigstens soll eine Lücke der Einsamkeit in mir gefüllt werden. "Scheiß drauf", flüstere ich. Was kommt, das kommt. Ich kann es nicht ändern, so sehr ich mich auch bemühe. Ich wische mir meine Tränen weg, schniefe und tupfe die Flüssigkeit an meiner Nase ab, bevor ich weiterlaufe. Meine Musik stelle ich vorsichtshalber leiser, denn trotz dessen, dass es sich hier um eine ruhige Siedlung handelt, kann jederzeit etwas passieren. Ich sollte immer wachsam sein, vor allem bei den vier Männern am Ende. Ich schalte meine Musik gänzlich ab sowie meine Kopfhörer und verstecke mein Taschenmesser unter dem Ärmel meiner Jacke, als ich mich ihnen unauffällig nähere. Bitte seid keine Alkoholiker. Bitte seid nicht im Suff.

Durch den Weg deines HerzesWhere stories live. Discover now