Kapitel 1

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Es klopft an der Tür und sofort gehen meine Augen auf. Mein Herz klopft fest, wohl wissend, dass es mein koksabhängiger Bruder ist, der um 03:12 Uhr wieder vor der Haustür steht, benommen und schniefend. Ich will ihn nicht hier haben. Ich will es überhaupt nicht, obwohl er mir nichts tut. Nicht mehr. Aber ich hasse ihn trotzdem. Ich hasse ihn so sehr, dass ich mich immer wieder damit beruhigen kann, dass meine emotionale Abwesenheit, Kälte und Barschheit ihn sogar zum Weinen gebracht hat. Ich will nicht mehr und ich könnte jedes Mal schreien, wenn meine Mutter nach zehn Minuten erwacht, um ihm die Tür zu öffnen, weil sie ein viel zu großes Herz hat und ihren Sohn trotz allem liebt, so sehr sie auch seinetwegen weint. So sehr sie auch seinetwegen leidet. Sie meint immer, dass ich es verstehen werde, wenn ich selbst Kinder habe. Biçîk cegeren, keça min. Kinder sind die Seele. Ich kann sie nicht verstehen. Nur zum Teil. Ich verstehe, was die Psychologie dahinter ist. Ich weiß, dass es nicht einfach ist und man nicht von jetzt auf gleich alles beenden kann, aber wenn es seit gut zehn Jahren so läuft und man mit jedem Lebensalter immer mehr davon versteht und mitbekommt, wird man müde. Was ich alles schon gesehen habe. Was ich alles schon gehört habe. Ich höre sein leises Murmeln und wie er sich von meiner Mutter anschimpfen lässt und dann sein Schniefen, weil er wieder zugekokst ist.

Wie sehr ich ihn hasse und wie sehr ich es nicht verstehen kann, dass er trotz dessen in bester Form ist, obwohl er seit Jahren nichts tut, als zu TBC, Nikotin, Alkohol und Koks zu sich zu nehmen. Wie kann es sein, dass mein gesunder Vater drei Jahre mit Krebs leben musste und bis heute noch Probleme hat? Wieso trifft es immer die Guten? Und wieso werden die Guten ausgenutzt? Meine Mutter ist der Grund, wieso er überhaupt noch eine Bleibe hat, wenn er mal nicht bei irgendwelchen jungen Frauen haust, die viel zu niveauvoll für ihn sind. Ich habe es nie verstanden, wie sie sich von einem 1.70 Junkie so verleiten lassen können. Sie tun mir leid. Ich will nicht über sie urteilen, weil sich häusliche Gewalt nicht nur durch physische Attacken bemerkbar macht. Das Gehirn wird zum eigenen Feind. Ich sollte weiterschlafen. Dieses Mal hat es ja nur zehn Minuten gedauert, bis meine Mutter ihm die Tür geöffnet hat. Sobald er klopft, bin ich hellwach und ich hasse meinen Körper dafür. Ich würde so gerne einer der Personen sein, die mit 15 Weckern erst aus dem Bett kommen. Sobald ich sein Klopfen höre, zieht sich mein Magen zusammen. Dabei muss ich mich vor nichts fürchten. Nein, er fürchtet sich sogar vor mir. Das sollte er auch. Nur so kann ich mir die übermäßigen Kopfschmerzen ersparen. Nur so hält er mich davor ab, ihm ein Messer in den Bauch zu rammen wie wahrscheinlich einer der anderen gottverdammten Junkies, mit denen er sich rumtreibt und Stress bei ihm sucht, weil er das Koks doch nicht bezahlen kann. Ich weiß nicht, wann es ein Ende hat, aber ich bete jedes Mal. Es ist mir egal, wie es endet und selbst, wenn er vor meinen Augen stirbt. Manchmal ist es das, was ich mir auch wünsche.

Ich drehe mich auf die linke Seite meines Bettes, schaue auf die Silhouette meines Bücherstapels, den ich seit Wochen oder Monaten eigentlich anfangen will. Von Islam, Liebesroman bis hin zur Psychologie ist alles dabei, aber ich habe aktuell keine Lust dazu. Vermutlich, weil ich schon wieder nur Absagen von den Universitäten zum Medizinstudium bekommen habe. Ich habe nur diese eine Konstante neben meiner Religion in meinem Leben. Ich wünsche mir nur das. Ich weiß, dass ich meine Eltern auch damit glücklich mache und auch ihre kleine Konstante bin, wenn sie wieder traurig sind. Dann denken sie an mich und erinnern sich daran, dass ich Medizin studiere und das beruhigt ihre belasteten Herzen. Ich habe keine Lust mehr. Ich habe weder Lust noch Kraft. Ich warte und warte, aber nichts kommt mehr so, wie ich es mir wünsche. All meine vermeintlichen Freunde haben sich als ehrenlose Versager herausgestellt. Nur eine ist mir geblieben. Dijan. Sie versteht mich. Sie ist die einzige, mit der ich kommuniziere, wenn ich endlich das Labor verlassen kann. Ich sollte mich mal endlich wieder mit ihr treffen. Ich lade sie nur ungern zu mir ein, wenn ich weiß, dass der Junkie von seiner Freundin rausgeschmissen wurde. Ich möchte nicht, dass sie mitbekommt, wie er und meine Mutter schreien, auch wenn sie sich bei Besuch bemühen, zu schweigen. Ich kann mich nicht darauf verlassen. Ich verlasse mich auf niemanden. Das birgt Enttäuschungen vor. Enttäuschungen, von denen ich eine Menge in meinem Leben erlebt habe.

Durch den Weg deines HerzesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt