Kapitel 22

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Der Moment, an dem ich an seiner Brust verweile, kommt mir wie eine Ewigkeit vor und doch unterscheidet sie sich von allen erlebten Ewigkeiten. Sie ist mir lieber, weil ich nicht alleine bin. Ich bin dieses Mal nicht diejenige, die etwas tun und versprechen muss. Nein, dieses Mal wird mir das versprochen, was sonst auf meinen Schultern lastete. "Du musst nichts mehr tun. Sag mir, was immer du brauchst und ich sorge dafür, dass du es kriegst." Und genau das ist es, was ich mir seit Jahren wünsche. Es erscheint mir surreal, dass ich es jetzt wirklich erleben darf. Ich will meine Hand auf seine Brust legen, zögere aber. Am Ende berühre ich ihn doch, aber nur, um mich sanft von ihm zu drücken. Meine Hand bleibt jedoch auf seiner Brust, auf dem glatten, schwarzen Hemd. Und so verharren wir. Ich sehe in seine hellblauen Augen und er mir in meine dunkelbraunen. Sowohl seine als auch meine Augenbrauen sind zu einem gewissen Grad besorgt zusammengezogen. Beide meinetwegen. Könnte es doch gut ausgehen? Könnte ich mich wirklich bei ihm fallen lassen, nachdem ich seit meiner Kindheit gesehen habe, wie grausam Männer eigentlich sein können? "Ich weiß, dass du mir immer noch nicht vertraust. Ich merke es dir an. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, aber bedenke, dass ich täglich auf ein Zeichen von dir warte." Wir wollten rein. Das ist besser.

Ich nehme meine Hand von seiner Brust, nicke zum Haus, damit er mir folgt, wenn er möchte. Der Weg zurück bleibt schweigsam. Ein wenig angespannt und unangenehm, aber nichts, was man nicht aushalten könnte. Im Haus herrscht das komplette Gegenteil. Ich höre unsere Eltern lachen und sich prächtig unterhalten. Einer der Brüder telefoniert im Flur und steigt gerade die Treppen hinauf und dann sehe ich wieder Dilnia und neben ihr Aras. Dreimal die gleiche Augenfarbe und doch wirkt nur ein Paar besonders strahlend und fesselnd. "Azad, Avin hat so schöne Sachen heute gekauft!" Oh Gott, bitte nicht. Ich merke seinen Blick schon auf mir und weil ich irgendjemanden dafür bestrafen will, aber Dilnia nicht das Herz irgendwie brechen möchte, visiere ich Aras, der absolut nicht versteht, wieso ich ihn jetzt so anschaue und sich schon fragend umdreht. "Davon hast du mir aber nichts erzählt. Ich weiß nur, dass sie sich ein Kleid holen wollte", wendet er sich dann an Dilnia, die sich mehr über meinen Einkauft freut als ich es tue. "Nicht nur. Es sind wunderschöne Sachen. Wo wollt ihr eigentlich eure Flitterwochen machen?" Flitterwochen. So lethargisch wie ich bin, wird er sicherlich keine spektakulären Flitterwochen haben. "In Dubai hatten wir uns überlegt." "In deinem Haus?", fragt jemand plötzlich hinter uns. Es ist entweder eine Schwägerin oder eine seiner Schwestern, aber ich schätze eher auf eine Schwester. Sie wirkt streng. Zu streng. Ihre Augenbrauen sind skeptisch zusammengezogen und genau das reicht mir, um sie nicht zu mögen.

"Ja", antwortet Azad ihr. Ihre braunen Augen mustern mich, dann Azad, woraufhin sie in die Küche verschwindet. Was sollte das jetzt werden? Ich drehe mich verwirrt und entgeistert zugleich zurück zu Dilnia und Aras. Sie wirkt genervt und Aras sichtlich irritiert. "Was sollte das werden?", frage ich ohne verhehlte Abneigung. "Frag nicht", winkt Dilnia mit verdrehenden Augen ab. Aras zuckt nur lässig seine Schultern und Azad neben mir scheint auch keine Antwort zu haben. "Vielleicht hat sie ihre Klausur verhauen." "Suzan ist schon seit einer Weile mies drauf", kommentiert Aras. Das ist also Suzan ... aha. Ich belasse es einfach dabei. Vielleicht hat sie ja wirklich ihre Klausur verhauen, auch wenn es kein Grund ist, sich so komisch aufzuführen. Wir vier treten in den großen Wohnbereich. Einige sitzen auf den großen Sofas und einige am Esstisch ... wenn sie nur wüssten. Ich spüre, dass er mich von hinten sanft anstößt. Es reicht nur ein Blick hoch zu seiner angezogenen Augenbraue, um zu verstehen, dass er auf unser erstes Essen anspielt. Verrückt, wie schnell alles geht. "Setz dich, Schneeflocke." Er schiebt ausgerechnet den Stuhl zurück, den ich damals am Sonntag schon belegt hatte. Ob es bewusst intendiert ist oder einfach nur, weil ich genau vor diesem stehe, weiß ich nicht. Ich lasse mich einfach, ohne weiter darüber nachzudenken, auf dem Stuhl nieder.

"Schneeflocke? Süß!" Dilnia grinst verschmitzt und auch ihre Schwester und Schwägerinnen am Esstisch scheinen sich über den Kosenamen zu freuen. Ein Glück ist der Rest auf den Sofas zu beschäftigt mit dem lauten Gespräch. "Ja, meine Schneeflocke. Einzig und allein meine." Okay, du blauäugiger Mörder. Schalt einen Gang runter, bevor ich mein Messer in deinen Oberschenkel ramme! Ich lächele ihn verkniffen an, doch er erwidert es ehrlich. Sanft. Zufrieden. Seine Grübchen stechen hervor, seine schönen Lippen ziehen sich in die Länge. Lange kann ich diesen angenehmen Anblick nicht standhalten, weil mir wirklich warm deshalb wird. Wenn es nicht so offensichtlich wäre, würde ich mir an meine Wangen fassen, um zu kontrollieren, ob sie wirklich so heiß sind oder es mir nur vorkommt. "Warum wirst du so rot, Schwägerin?" Mit Aras habe ich einen Feind mehr auf meiner Liste. "Vasodilatation." "Hat dich mein Bruder etwa mit seinem Lächeln verlegen gemacht?", neckt er mich weiter. Dilnia kichert hinter ihrer Hand, statt ihm ihre Faust gegen seinen Adamsapfel schnellen zu lassen. Wenn das Abstreiten nichts bringt, dann geht nur das bestätigen, um Aras nicht weiter die Macht beibehalten zu lassen, mich in Verlegenheit zu bringen. Was ich also tue, ist es, Azads Hand zu nehmen und sie um meine Schulter zu legen. Sofortige Reaktion: Dilnia hört auf zu kichern, gibt stattdessen aber schwärmende Laute von sich und Aras hebt ergebend seine Hände. "Ich habe nichts gesagt." "Besser so", schmunzele ich.

Durch den Weg deines HerzesWhere stories live. Discover now