Kapitel 36

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Es ist langweilig. Es ist tatsächlich langweilig. Azad arbeitet und telefoniert und ich liege im Bett, frische das Wasser der lila Tulpen in den fünf Vasen auf oder bin im Haus spazieren. Selbst Aras' Anwesenheit würde ich jetzt in Erwägung ziehen. Mit den Katzen bin ich mir noch nicht sicher. Ich weiß nicht, ob es aktuell bei den Umständen gut wäre, Kätzchen zu holen, daher schiebe ich es noch vor. Dijan kann nicht, weil ihre Familie sie mal wieder aufhält, also schreibe ich Dilnia und schmeiße dann seufzend mein Handy zur Seite. Es ist warm. Ich will Ablenkung. Was kann man machen, wenn man allein ist? Ich könnte schwimmen gehen, immerhin haben wir gerade 25 Grad, aber ich habe keine Lust auf die Sicherheitsmänner. Vielleicht später. Vielleicht kann ich Azad ärgern. Das hört sich gut an. Ich setze mich auf, richte den Träger meines Hemdchens und laufe dann in sein Arbeitszimmer, in dem er gerade irgendwelche Zettel vor sich liegen hat. Mir gefällt sein konzentrierter Blick. Es steht ihm, seinen Kugelschreiber an seine Lippen gedrückt zu halten. Und grau steht ihm auch. Aber nichts kommt an den dunkelblauen Dreiteiler ran. Niemals. Ich stütze mich neben ihm am Schreibtisch ab, genieße es wirklich sehr, wie er seine Augenbrauen beim Lesen konzentriert zusammengezogen hat. "Alles gut?", murmelt er. Ich summe bejahend. "Spannend, was du liest?" "Geißner zu töten, hört sich langsam sehr verlockend an", murmelt er. Oh, der Typ schon wieder. "Warum?" "Die Punkte, die von seinem Assistenten geschickt wurden, sind utopisch. Das ist lächerlich. Keiner gewährt beim ersten Kooperationsvertrag solche Privilegien." Azad schnalzt verachtend mit seiner Zunge, als er das Blatt ablegt und sich zu mir wendet.

"Du langweilst dich, oder?" Ich nicke. "Hab Dilnia geschrieben." "Ich bringe dich heute zu meiner Familie. In der Firma ist etwas schiefgelaufen, aber das sollte nicht lange dauern, ja?" Von mir aus. Ich zucke mit den Schultern. "Gut." Seine Hand legt sich auf meine Hüfte und streichelt sie sanft. "Mach dich fertig, dann bringe ich dich dahin." Warte ... wieso muss aber genau er dahin? Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Was genau ist schiefgelaufen?" Die Schroffheit meiner Stimme lässt Azad überrascht schauen. "Wir haben einen Praktikanten, der ein wichtiges Formular für die Qualitätssicherung in die zwanzigste Abteilung bringen sollte. Ich habe es abgeschickt, es wurde gedruckt und ihm übergeben, aber dadurch, dass die Kollegin gerade nicht da war, hat er es wem anders gegeben." "Und wo ist da jetzt was schiefgelaufen?" Belügt er mich? "Praktikanten, die zum ersten Mal in einer Firma sind, können vieles vertauschen. Auch Worte. Es wirkt wohl so, als hätte man ihm schnell das Wichtigste gesagt, bevor er losgeschickt wurde. Ich weiß es nicht genau, deshalb muss ich schauen und-," "Wieso kann das niemand von den anderen machen?" Azad nimmt meine Hand, doch das beruhigt mich auch nicht. Das macht keinen Sinn. "Weil ich der Zuständige bin. Ich bin der Chef. Die Verantwortung liegt bei mir und keiner kann das übernehmen, weil es auf meinem Namen ist, Schneeflocke. Du kannst auch mitkommen, wenn du möchtest." "Will ich." "Gut." Azad lächelt, als er sich erhebt und gibt mir dann einen Kuss auf die Schläfe. "Mach dich fertig."

Okay, er hat nicht gelogen. Es hat auch wirklich nicht lange gedauert und ich habe Kakao getrunken, während ich in seinem Büro gewartet habe. Tuncay hat ihn mir höchstpersönlich gebracht und auch vom Problem erzählt. Das Toxische an mir ist aber, dass irgendeine kleine Stimme in meinem Kopf flüstert, dass es doch gelogen sein kann. Er kann es mit Tuncay abgesprochen haben oder das Problem in der Firma stimmte, war aber nur ein Alibi für eine andere Sache, die er mir verheimlicht. Nur macht das nicht mehr allzu viel Sinn, weil Azad mitkommen möchte und wir jetzt ins Haus der Familie eintreten. Meine Familie werde ich aus reinem Schutz nicht besuchen. Vielleicht irgendwann, wenn meine Mutter mich anruft, weil sie mich vermisst, aber ich will es meiden, sie in Gefahr zu bringen. Immerhin halte ich den Kontakt, indem ich immer Bilder vom Essen oder sonstigem schicke. Azad legt seine Hand auf mein Kreuz, wie er es schon in der Firma getan hat und lässt mir den Vortritt, als Dilnia uns fröhlich die Tür öffnet, bevor er sich hinunterbeugt, um mir die Schleifen an den Schienbeinen der Römersandalen zu öffnen. Es ist der erste Sommer, in dem ich High Heels trage und ich genieße es wirklich. Ich mag High Heels. Sie sind edel und passen besser zu Kleidern als Air Force. Nur ist es manchmal ein wenig schwer wegen der Fußkettchen, aber ich komme klar.

Durch den Weg deines HerzesWhere stories live. Discover now