Kapitel 24

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„Ihr scherzt." Das grauenhafte Lächeln auf den roten Lippen wurde breiter und die sonst so toten Augen spöttisch. „Nicht doch, über so eine Angelegenheit würde ich niemals scherzen." Soran wusste nicht, ob er aus Verzweiflung weinen oder Lachen sollte. „Und weißt du was noch besser ist? Der Ohrring hat in einem Radius von 100 km ein perfektes Ortungssystem." Taumelnd ging Soran einen Schritt nach hinten. Der König hat ihm mit einem Zug alle Möglichkeiten genommen.
Er hat mich mit einem hinterlistigen Zug Schachmatt gesetzt.

Soran wusste gar nicht wie lang er schon hinter Reagan her trottete, als er endlich wieder aus seiner Trance erwachte, bogen sie bereits in das Schlafgemach des Königs ein. „Du kannst dich erstmal hinsetzen, ich möchte mich nur kurz frisch machen. Und Versuch gar nicht erst abzuhauen." Ein lautes Knacken erklang von der Tür aus. „Es ist abgeschlossen. Du kannst dich heute übrigens noch entspannen, deine neue Aufgabe wird erst ab morgen in Kraft treten." Er sah noch dabei zu wie die letzte schwarze Spitze der Kleidung des Königs im Bad verschwand und die Tür laut ins Schloss fiel. Schnell sprang er von der Couch auf und versuchte die Tür zu öffnen.
Abgeschlossen.
Dann das Fenster.
Abgeschlossen.
Es war alles abgeschlossen. Jedes Fenster, jede Tür. Es gab hier keinen unbemerkten Weg raus.
Vielleicht bei diesem Ball. Unter vielen Leuten würde ich nicht auffallen und ein Verschwinden wäre deutlich einfacher.
Nur der Ohrring machte ihm Probleme.
Er muss weg oder alles wäre um sonst.
(Vielleicht hatte er aber auch nur geblufft.)
Soran wusste selbst das diese Stimme ihm nur Hoffnung machen wollte, ohne Beweise für diese Hoffnung erbringen zu können.
Wann hatte Reagan schon mal geblufft? Noch nie.
Die Worte hallten so deutlich in seinem Kopf nach das sogar die kleine Stimme verklang.
Er meinte ich solle aufhören an dem Ding zu reißen außer ich wolle mein Ohrläppchen verlieren. Vielleicht wenn ich es verliere, verschwindet auch der Ohrring.
Sofort griff Soran nach den Schubladen und suchte verzweifelt nach einem scharfen Gegenstand, doch das schärfste das in seine Hände gelangte war der stumpfe Brieföffner.
Es kann doch nicht sein, dass ein Mann der durchgängig ein Schwert an der Hüfte trägt keinen einzigen scharfen Gegenstand in seinem Gemach hat.
Es war sinnlos.

Schwerfällig ließ sich Soran zurück auf die Couch fallen und sah mit an, wie die Bad Tür sich erneut öffnete. Mit einem eng um die Hüfte geschlungen Handtuch und nassen ihm im Gesicht hängenden Haaren trat Reagan aus dem dampfenden Zimmer.
Ein perfekter Körper.
Es war egal ob Soran diesen Mann bis zum Abgrund hasste, diese Sache musste er sich selbst eingestehen. Dieser Mann mag zwar nicht mit dem auf seinem Schreibtisch auf eine Stufe stellbar sein, aber er folgte ihm auf dichten Fersen. „Gebe es auf, jede Flucht Möglichkeit ist verriegelt."
Sorans Gesicht verzog sich.
Er hatte es gehört.
Reagan legte ein lockeres Hemd an und zog seine Hose über die nackten Beine. Sein Schwert ließ er neben dem Schreibtisch lehnen, nahm aber den Dolch den Soran bereits schon einmal an seiner Kehle spüren durfte in die Hand. „Was habt ihr vor?" Soran rutschte mit aufgerissenen Augen auf der Couch zurück, während seine Stimme in Panik ertrank. „Deine Theorie austesten." Soran hatte das Gehör des Königs unterschätzt. Massig unterschätzt. Das war kein verbessertes Hören, das war ein wahrer Fluch, sowohl für Träger als auch für die auf die es sich auswirkte. Noch bevor er die Chance hatte wegzurennen stand Reagan vor ihm, legte seine warme Hand fest um seinen Hals und drückte ihn rückwärts in das Polster der Couch. Verzweifelt zappelte Soran mit dem liegenden Körper bis der König sich auf ihn setzte und alle Möglichkeiten der Gegenwehr nahm.
Überlegenheit.
Es beschrieb den Ausdruck in Reagans Augen vermutlich am besten.
Er genießt es wie ich ihm unterlegen bin.
Die Klinge nährte sich langsam seinem Ohrläppchen und Soran atmete panisch. Aber es war etwas anders. Etwas das er nicht erwartet hatte, aber er bekam weiterhin gut Luft. Reagan drückte ihm nicht die Luft ab, er fixierte nur seinen Kopf. Der schmerzhafte Druck übte sich gegen seine Kieferknochen aus und nicht auf seine Kehle. Nur leider half Soran das gar nicht weiter, denn die Klinge war bereits so nah, dass er das kalte Metall an seinem Ohr spüren konnte. Fest kniff er die Augen zusammen und bereitete sich auf den Schmerz vor.
Doch es kam nichts.
Er spürte wie sich die scharfe Klinge gegen sein Ohr bewegte, doch es floss kein Blut. Eher erklang das schrecklich verzehrte Geräusch wie Metall gegen etwas härteres schleifte.
Die Hand an seinem Hals wurde sanfter und der Dolch verschwand wieder in Reagans Ärmel. „Keine Angst. Ich würde doch niemals meine Lieblingsunterhaltung beschädigen. Der Ohrring baut sofort eine Schutzmauer auf, sollten Scharfe Gegenstände oder Magie, die eine bestimmte Stärke überschreiten, ihm oder dir zu nah kommen." Langsam ging der König von seinem Körper runter und verschwand in Richtung Tür aus seinem Sichtfeld. Soran wagte es nicht einmal aufzustehen, er könnte die Tür weit offenlassen und Soran würde sich nicht bewegen. Er hatte keine Chance, egal was er sich einredete.
Seine Glieder fühlten sich schlaff an, als wäre jegliche Energie aus ihm geflohen als die Klinge sein Ohr berührt hatte. Vorsichtig öffnete er wieder seine Augen, als er Bewegung neben sich spürte und ein glänzendes silber Tablett neben ihm abgestellt wurde. Es war genug essen drauf, um seine ganze Familie zu füttern und jetzt stellte Reagan es vor Sorans knurrenden Magen ab. „Ist das nicht etwas zu viel für eine Person." Sorans Gliedmaßen mögen zwar Energie leer sein, aber seine Zunge war es nicht. „Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal lieber deine Zunge rausschneiden." Der kalte Blick glitt über Sorans Körper, bevor er sich wieder dem Essen zuwandte. „Aber ja es ist zu viel, darum werde ich es nicht allein essen, du wirst mit mir essen. Jeden Tag, bis ich dir genug vertraue, um zu wissen das du es nicht wieder verweigern wirst. Ich werde so lang bei dir sitzen bist du genug gegessen hast." Soran riss seine Augen auf und richtete ruckartig seinen Körper auf. „Was soll das? Bin ich ein kleines Kind, das zu unfähig zum Essen ist?" Die grauen Augen erkalteten noch mehr und der König ließ seine Hand zu Sorans Hemd fahren, welches er leicht anhob, um die dünne Haut mit vielen blauen Flecken und deutlich sichtbaren Rippen zu entblößen. „Wie das für mich aussieht, ja." Murrend entriss Soran ihm sein Hemd und blickte auf den Teller, der vor ihm abgestellt wurde. „Du musst dir keine Sorge um deinen Magen machen, da ich gleiche Probleme habe und ebenfalls von der Platte esse, ist das Essen im Voraus behandelt wurden." Vorsichtig begann er sich etwas unter dem wachsamen Blick des Königs aufzutun und die ersten Bisse zu nehmen.
Die Stunden zogen an ihm vorbei und die Dunkelheit legte sich wie eine Decke über den Himmel. Hinter den weiten Wäldern und Bergen erhoben sich bereits die zwei Halbmonde und das Sternbild leuchtete hell in der Dunkelheit auf. „Heute leuchtet ein anderer Stern mit dem Bild auf." stellte Soran murmelnd fest. „Ein neuer Monat hat begonnen." sagte Reagan nur nebenbei, während er weiter ein Dokument nach dem anderen Ausfüllte.
Ein neuer Monat? Wie lang war ich schon hier? War es nicht Anfang des Monats gewesen, als Amias und Cyrus mich mitgenommen hatten?
Er wusste es nicht mehr. Die Erinnerung begannen bereits zu schwinden, als würde sein Körper ihn krampfhaft seine Vergangenheit vergessen wollen. Wie sah seine Familie überhaupt aus?
Angestrengt versuchte er die Gesichter seiner Schwester, Mutter und Oma wieder vor seinen Augen erscheinen zu lassen, doch alles was er sah waren verschwommene Punkte. Sein Herz schlug schneller.
Warum erinnere ich mich an ihre Gesichter nicht mehr?
Ihre Stimmen hallten wie Geister ein seinem Kopf nach, aber es wollte kein Bild vor ihm erscheinen, keine Erinnerung schien vollständig zu sein. Panik stieg auf. Vielleicht stirbt sein Körper weiterhin. Zerfällt von innen langsam zu Staub. Vielleicht beginnt es bei seinen Erinnerungen, erst zerfällt die Vergangenheit, dann seine Gegenwart und zuletzt seine Zukunft, bis nichts mehr außer eine verschwommene Erinnerung in dem Kopf eines einzigen Wesens zurückbleibt.
Und irgendwann wird auch das Zerfallen und vom Wind weggetragen werden.

„Hey, ist alles okay?" Reagans Stimme riss ihn aus seinem hypnotisch ähnlichen Zustand und er wand sein Blick von dem Sternbild ab. Langsam trat er einen Schritt vom Fenster weg. „Du siehst müde aus, vielleicht solltest du schlafen gehen." Reagans Stimme klang anderes. Jünger, trüber, so als käme sie aus einem lang ersehnten Traum. Das hübsche Gesicht wirkte nicht scharf, aber irgendwie vertraut, als würde er die letzte scharfe Erinnerung in seinem Kopf ausmachen. „Vielleicht sollte ich das." Seine eigene Stimme klang dumpf, als wäre sie in einem Glass wie eine Fee gefangen. Taumelnd wollte er zur Tür gehen.
Wieso sehe ich nicht scharf?
Es war alles so trüb. Rauch umhüllte seine Umgebung und noch bevor er zurück taumeln konnte, stieß er gegen Reagans Brust. „Vielleicht solltest du heute Nacht hier schlafen." Die Stimme klang immer noch weit weg, aber sie war sanft, wie ein schwaches leitendes Licht der Dunkelheit. Ein Licht an das er sich um jeden Preis klammern würde. Vorsichtig umschloss er den warmen Körper und ließ sich von den starken Armen hochheben. Seine Gedanken waren wirr, innerhalb weniger Sekunden hatte er bereits vergessen wem die Stimme gehörte. Aber sie sollten nicht gehen, die Berührungen und die Stimme sollten bleiben, sie sollten ihn wie ein gutes Irrlicht durch das Moor seiner Träume leiten.

...

„Bitte bleib." Schwer seufzte Reagan, während er die zitternde Hand des Jungen ergriff. Fast schon besorgt wichen seine Augen immer mal wieder zu der schwebenden blauen Zahl, die ihm den Puls des Kleineren anzeigten. Vor wenigen Sekunden waren sie noch rot gewesen, aber er hat ihn beruhigt, bevor das Herz erneut erkalten konnte.
Aber ihr Gift hat immer noch Auswirkungen auf ihn. Es entreißt ihm seine Erinnerungen und vermischt die verbliebenen verschwommenen mit Sehnsüchten und Träumen, so lang bis er sie nicht mehr unterscheiden kann.
Nur leider waren es nicht immer gute Träume, meist waren es die schlechten die länger in Erinnerung verweilten und es waren die, die das Gehirn schneller in die Irr treiben konnten.
„Es ist okay, schlaf einfach, ich bin da. Ich halte sie fern." Er flüsterte die Worte nur und sah langsam dabei zu wie die Gesichtszüge sanfter wurden. Vorsichtig legte Reagan sich neben den schlafenden Jungen und schloss ebenfalls die Augen. Seine Erinnerungen begann zu kreisen. Kehrten an einen Ort zurück, den er lang nicht mehr gesehen hat und den es schon lang nicht mehr gab.
Vor einer genauso langen Zeit hatte jemand diese Worte zu ihm gesagt, jemand der schon lange nicht mehr in dieser Welt weilt und weder in Büchern noch in Liedern zu finden war. Es war als hätte diese Person nie existiert. Und ich bin mit ihr in den Schatten der Sterne geraten.

Crimson Stars [Boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt