Am Meer

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Vivek

Für den heutigen Tag habe ich mir etwas ganz besonderes überlegt. Nele und ich haben uns tatsächlich verabredet. Ich bin fast vor Freude übergesprudelt, als ich gestern Abend noch eine Nachricht von ihr bekommen habe. Ich hatte ein ziemlich blödes Gefühl, weil ich sie gestern zum Weinen gebracht habe. Es scheint, dass sie mehr mit sich herumtragen muss, als ich es im Moment ahne. Ja und vielleicht hätte ich warten sollen und sie nicht gleich um eine Verabredung bitten sollen. Aber da war ein Gefühl in mir, das mich angetrieben hat. Und jetzt sind da unzählige Schmetterlinge in meinem Bauch, die einfach keine Ruhe mehr geben möchten. Das zarte Flattern ihrer Flügel, kribbelt in meinem Inneren.

Seit meiner Kindheit kenne ich einen kleinen Strandabschnitt, der nicht ganz so überlaufen ist. Ja auch hier tummeln sich sehr viele Menschen, aber in Mumbai ist das einfach immer der Fall. Einen Ort zu finden, der nicht besucht ist. Einfach nur unmöglich. Trotzdem geht es hier etwas gemächlicher zu. Auch der Müll, den man leider am Strand sehr oft vorfindet hält sich hier ziemlich in Grenzen. Wie so oft habe ich meine Strandtasche gepackt und bin gerade dabei das große Handtuch auf dem warmen Sand auszubreiten. Schüchtern steht Nele neben mir. Im Moment kann ich ihr nicht in die Augen sehen, weil sie diese auf das Meer richtet. Alles an diesem Mädchen ist... wunderschön. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, dass ich mich Hals über Kopf in eine Fremde verlieben konnte. Ob es wirklich Liebe ist oder nur starkes Verknallt Sein kann ich auch noch nicht sagen. Diese Gefühle, die gerade in meinem Inneren brennen, sind mir so fremd. Irgendwie fühlt sich alles so leicht an, wenn Nele bei mir ist. Und unbeschwert.

Total ungewohnt eben-

„Es tut mir leid, dass ich dich gestalkt habe", versuche ich ein Gespräch zu beginnen. Auch meine Stimme klingt in ihrer Gegenwart anders. Sonst ist sie immer stark und kräftig, jetzt bricht sie mir beinahe weg. „Aber ich musste dich einfach wiedersehen. Auch um mich bei dir zu entschuldigen, dass ich in den Kinderwagen geknallt bin. Hoffentlich geht es dem Baby gut."

Ob es wohl ihr Kind ist oder doch das von ihrer älteren Schwester?

„Es war schon etwas bescheuert von dir, dort vor dem Hotel rumzulungern...", kichert sie. „Der Kleine hat keinen Schaden genommen. Ich glaube da haben es deine Kopfhörer und dein Bein schlimmer erwischt." Jetzt wendet sie sich vom Meer ab und direkt mir zu. Mein Herz, das schon bis eben total verrückt gespielt hat, hämmert jetzt intensiv gegen meinen Brustkorb. Wenn das so weiter geht, dann werde ich bald den Boden küssen. Alles in mir ist so zittrig, beinahe kraftlos.

„Ist es dein Baby?"

„Nein, er ist mein Neffe."

Es vergehen ein paar Minuten, in denen wir uns nur in die Augen schauen. Ich versuche es zumindest so lange, bis es zu intensiv wird und ich meine Pupillen auf das Meer richte. Das satte Blau erinnert mich so sehr an Neles Augenfarbe. Seit meiner Kindheit liebe ich das Meer. Es war immer ein treuer Freund, dem ich so viele Geheimnisse anvertraut habe, die ich meiner Familie nicht preisgeben wollte. Die Wellen schwappen sanft an den Strand und ziehen sich dann in Windeseile wieder zurück. Alles was sie hinterlassen ist der weißliche Schaum auf dem nassen Sand. Der Geräuschpegel um Nele und mich ist laut. Alle reden durcheinander. Ein paar Kleinkinder schreien. Die Mütter trösten sie oder schimpfen mit ihnen. Erwachsene unterhalten sich. Kinder werfen sich grölend Wasserbälle zu. Und dazwischen immer mal wieder das sanfte Rauschen des Ozeans.

„Willst du ein Eis?", frage ich Nele.

„Nur, wenn du auch eines magst". 

Ihre Finger berühren zufällig meine. Nur ein Hauch, fast nicht spürbar.

Ihr Blick trifft meinen. Sofort wird sie rot, was in ihrem blassen Gesicht sofort hervorsticht.

„Dort drüben ist ein kleiner Stand mit dem besten Eis am Stiel, das ich je gegessen habe. Sollen wir uns eines holen?"

Sie nickt und schiebt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Am liebsten hätte ich das für sie erledigt. Ich suche noch immer nach Möglichkeiten, sie zu berühren. Unsicher rappelt sie sich auf, kommt beinahe wieder zum Fall und das ist meine Chance. Ich nehme ihre Hand in meine und gehe so sicher, dass sie auf den Beinen bleibt. Ein Kribbeln durchfährt meinen Körper, als ihre warme Hand in meiner liegt. Ich will nicht, dass dieser Moment je aufhört. Es fühlt sich magisch an. Und zaubert mir sofort ein Grinsen ins Gesicht.

Und Nele? Sie lässt nicht los.

Nein, sie hält mich weiter fest.


Nele

Ich will kein Eis. Das wollte ich die ganze Zeit nicht. Ich habe Viveks Stimme gelauscht, die mir verraten hat, dass er genauso nervös ist, wie ich es bin. Ich wünschte, er hätte mich schon gestern berührt. Das Gefühl von seiner Hand in meiner ist unbeschreiblich. Ich kann ein Kichern nicht an mich halten. Im Moment bin ich so unbeschwert. All die Traurigkeit verzieht sich einfach. Es sind nur wir beide. Vivek und ich. Und mein Herzschlag, der mich womöglich längst verraten hat. Wie tiefe Schläge auf eine Trommel, vibriert er in mir. Jetzt sind es nur die braunen Pupillen, in die sich eine bernsteinfarbene Nuance mischt, die ich betrachten möchte. Am liebsten den ganzen Tag lang. Die Sonne ist wirklich magisch. Was sie für einzigartige Pigmente heraufbeschwören kann.

Ich habe mich schon immer am Meer wohlgefühlt. Das Brechen der Wellen und die Möwen, die schreien. All das erinnert mich an meine Kindheit. Und dazu noch der salzige Geschmack des Wassers, der mir immer sofort in die Nase steigt.

Aber heute toppt einfach alles, was ich bisher erlebt habe. Vivek ist ein Fremder. Und trotzdem ist er mir näher, als manche Menschen, die ich schon sehr lange kenne. Vielleicht mag es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Es ist mir eigentlich egal. Alles was zählt ist der Moment. Das Hier und Jetzt. Mit Vivek hier zu sein, ist wohl das schönste, das ich seit Wochen erlebt habe. Und ich möchte nicht, dass es irgendwann aufhört. Am liebsten wäre es mir, wenn dieser Tag heute kein Ende nimmt. Den Rest meines Lebens möchte ich hier im Sand sitzen, Viveks Hand halten und wie ein kleines Kind kichern, als gäbe es kein Morgen.

My Heart belongs to YouWhere stories live. Discover now