Das Selfie

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Nele

Stille-

Um mich herum nur Stille. Kein Gelächter, keine Gespräche mehr- 

Nur Stille.

Mühsam schlage ich die Augen auf und will mich bewegen. Aber es funktioniert nicht. Meine Beine sind gefangen, aber meinen Kopf und meine Arme kann ich bewegen. Ich drehe mich so, dass ich die Babyschale betrachten kann und versuche etwas von dem kleinen Körper von Noah zu erhaschen, aber ich schaffe es nicht. Die Dunkelheit um mich herum, nehme ich erst jetzt wahr.

Warum ist es so still hier? Warum sagen Mama und Papa nichts? Und wie lange hat Noah schon nicht mehr geweint? Da sind so viele Fragen, aber ich kann keine Antworten finden. Die Verzweiflung mischt sich mit Panik und ich versuche die Tür, die mich einschließt, aufzudrücken, aber nichts passiert.

Die Stille wird von meinen lauten Hilferufen durchbrochen. Es klingt so schrill in meinen Ohren, so unwirklich. Schreie ich wirklich oder denke ich das nur?

Plötzlich nehme ich  Bewegungen wahr. Nur etwas später, zumindest denke ich das, weil ich absolut kein Zeitgefühl mehr habe, scheint das Licht der Taschenlampe in mein Gesicht. Es ist so grell und kurz sacke ich in mich zusammen, ehe ich erneut alles versuche, um mich zu befreien. Wie verrückt klopfe ich gegen die Fensterscheibe der Tür, die mich gefangen hält, bis ich ein Gesicht vor mir sehe, das von blonden Haaren umrahmt wird. 

Marleen! 

Sie ist da! 

Jetzt wird alles gut werden-

Schon wieder der selbe Traum. Schwer atmend richte ich mich in meinem Bett auf. Ich versuche mich von meiner Bettdecke zu befreien, will Vivek aber nicht aufwecken. Ich brauche jetzt dringend ein Glas Wasser. Mein Gaumen klebt förmlich an meiner Zunge. Es ist Ende Juli und so heiß. Trotz all meiner Bemühungen wird Vivek wach. Kurz scheint er nach Orientierung zu suchen, ehe er sich schwerfällig aufrichtet. Mit halb geschlossenen Augen schaut er mich an.

„Ist alles okay?", nuschelt er schlaftrunken und wuschelt sich durch das dichte schwarze Haar.

„Ich habe nur Durst bekommen...", flunkere ich. „Magst du auch ein Glas Wasser? Es ist furchtbar heiß hier drinnen".

„Nein, danke", murmelt er.

Vivek weiß zwar Bescheid, dass Mama und Papa bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Er weiß auch, dass Noah und ich mit ihm Wagen saßen und ziemlich unverletzt dort rausgekommen sind. Allerdings verschweige ich ihm noch immer die eine Sache, die ich seit dem Unfall mit mir herumtrage... Im Moment bin ich noch nicht bereit diese Gefühle mit ihm zu teilen, es ist feige, dass weiß ich, aber ich kann es einfach nicht. Es auszusprechen würde alles einfach nur so real machen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich im Moment damit umgehen könnte. Es ist schon so schwer genug.

Als ich zurück in mein Zimmer komme, schläft Vivek wieder tief und fest. Für einen Moment betrachte ich ihn dabei.

„ Eines Tages wird alles gut werden...", murmele ich in die Stille, die nur durch Viveks gleichmäßiges Atmen durchbrochen wird. „ Es muss einfach..."


Vivek

Ich habe Shah Rukh am Flughafen getroffen...", schreit Kavita. Ich nehme das Handy von meinem Ohr weg und warte ab, bis das Geschrei meiner Schwester leiser wird. „Nele und du, ihr wart gerade weg und ich wollte eigentlich nur zum Ausgang laufen und bin gewissermaßen beinahe in ihn reingelaufen..", fährt sie in angemessener Lautstärke fort. „ Er war super lieb und hat sogar ein Selfie mit mir gemacht. Ich bin fast ohnmächtig geworden, als er mir plötzlich so nahe war..."

Ich freue mich für meine Schwester. Sie scheint so glücklich zu sein und eigentlich sollte ich mich darüber freuen, aber irgendwie versetzt es mir trotzdem einen kleinen Stich. Ich bin hier und obwohl ich mich mittlerweile damit abgefunden habe und auch wirklich glücklich bin, wäre ich jetzt trotzdem so gerne bei meiner kleinen Schwester.

Zuhause läuft es also auch ohne mich...

„Wie läuft es bei Nele und dir?", meint Kavita schließlich und beendet mit ihrer Frage meine wirren Gedankengänge.

„Nele ist total happy, dass sie wieder zuhause ist...", fange ich an und zwirbele mit der freien Hand durch meine Haare. Eine doofe Angewohnheit, aber irgendwie geht es in manchen Situationen auch nicht ohne. Mama hat mir mal erzählt, dass ich als Kind immer mit meinen Haaren gespielt habe, wenn ich müde war. So wusste fast jeder in meiner Familie Bescheid, wann es Zeit für meinen Mittagschlaf war. Heute scheint es mich zu beruhigen. „ Seit letzter Woche habe ich sogar schon einen Job und wenn es gut läuft und wir etwas passendes finden, dann wollen Nele und ich uns bald eine eigene kleine Wohnung anmieten."

„Das klingt super...", meint Kavita. Diesmal klingt ihre Stimme etwas bedrückt. „ Wo arbeitest du denn?"

„Bei einem Rechtsanwalt, das Büro ist nicht einmal annähernd so groß, wie das von Papa,...aber ich kann mich hier richtig austoben und vieles anwenden, was ich im Studium gelernt habe... Hauptsächlich betreue ich dort englische und sogar einige indische Mandanten... Wie geht es Mama und Papa?"

Kavita ist für einen Moment ganz ruhig und ich kann nur ihr gleichmäßiges Atmen durch den Lautsprecher hören.

„Mama weint sehr viel und... ist ziemlich durch den Wind. Ich versuche sie immer etwas abzulenken. Das wirkt aber nicht immer... Und Papa... naja Papa... Er ist eigentlich ziemlich der Alte... Nur, dass er noch viel mehr Zeit in der Firma verbringt und irgendwie stiller geworden ist..." Kavita macht eine kurze Pause. Wahrscheinlich hat sie wieder ihre Haare geflochten und spielt jetzt mit einem ihrer Zöpfe oder mit beiden abwechselnd. „ Ich habe gestern versucht mit ihm über die ganze Situation zu sprechen, aber er hat mich einfach nur abgeblockt und als ich ihn danach gefragt habe, ob er dich nicht auch vermisst, hat er nur gemeint, dass du es dir ja selbst ausgesucht hast und freiwillig gegangen bist." Jetzt weint meine Schwester. Ich höre ihr Schniefen durch das Telefon und fühle mich erneut so hilflos. Wie gerne würde ich sie jetzt halten und sie trösten. Eigentlich etwas, das wir immer getan haben. Immer wieder aufs Neue erschreckend, wie schnell sich alles im Leben ändern kann.

„Ich bin immer für dich da...", sage ich ins Handy. „ Hörst du, Kavita. Ich habe unser Versprechen, das wir uns vor zwölf Jahren gegeben haben, nicht vergessen. Ich bin noch immer dein großer Bruder und werde das auch für immer bleiben. Und ich habe dich verdammt lieb du kleine Kröte".

„Ich habe dich auch lieb...", flüstert Kavita. „ Wir telefonieren ganz bald wieder und dann rufe ich dich per WhatsApp an, damit ich dein blödes Gesicht auch vor mir sehen kann".

„Das machen wir...", bestätige ich ihr und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „ Ich freue mich schon sehr darauf".

Ich wette gerade streckt Kavita mir frech die Zunge entgegen!

My Heart belongs to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt