Alles taub

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Vivek

„Mama... Ich liebe sie. Nele ist mein Mädchen. Und dieses Kind, unser Baby, das dort in ihrem Bauch heranwächst... Ich kann, nein ich will nicht, dass es ohne mich aufwächst. Das verstehst du doch, oder?" Ich bin verzweifelt. In wenigen Stunden werde ich mit Nele nach Stuttgart fliegen. Aber ich kann nicht gehen, ohne noch ein letztes Mal mit meinen Eltern zu sprechen.

„Du hast einen großen Fehler gemacht...", Mama schnieft leise vor sich hin. Alles an dieser Situation gerade ist schmerzhaft. Mama ist zumindest bereit mit mir zu sprechen, während Papa nur stumm vor der großen Fensterfront steht, die Hände tief in seiner Anzugshose vergraben. Sein Blick liegt starr auf dem Teil unseres Gartens, den man von seiner Position aus sehen kann.

„Ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast... Warum hast du das getan, Vivek?"

Da ist so viel Verzweiflung in Mamas Stimme. So viele nicht geweinte Tränen in ihren Augen und so viel Schmerz in ihrem Herzen.

„Das hast du dir doch seit deiner Kindheit gewünscht...", fährt Mama fort. Ich sehe, wie sie sich kurz ein paar Tränen von der Wange wischt. „Die Verlobung mit Dayita war doch so, wie du es dir immer gewünscht hast. Was haben wir nur falsch gemacht?"

„Nichts Mama...", beeile ich mich zu sagen. „ Ihr seit großartige Eltern...Bitte zweifele nicht daran...", Ich stocke für einen kurzen Moment und hebe meine rechte Hand an mein Herz. „ Ich habe mich einfach nur verliebt. Das ist alles."

„Ach Junge...", seufzt Mama und sie hebt ihre Hand, ehe sie damit über meine Wange fährt. „Ich will doch nur, dass du glücklich bist... Wie geht es weiter, wenn du mit Nele nach Deutschland gehst? Hast du dir das schon mal durch den Kopf gehen lassen?"

„Wir werden das schon hinbekommen...", murmele ich.

„Wenn du heute diesen Schritt wagst und mit Nele gehst...", mischt sich Papa in das Gespräch ein. „ Dann brauchst du nicht wieder zurück kommen... Du hast deine Mutter und mich furchtbar enttäuscht und wir sind nicht bereit, dass wir deine Fehler ausbügeln müssen."

„Es ist mein Kind, Papa...", Die Tränen rinnen mir aus den Augen. Tiefe Verzweiflung macht sich in mir breit und am liebsten würde ich alles hinausschreien. Ich weiß, dass Papa furchtbar enttäuscht von mir ist, aber hätte nie gedacht, dass er mich vor die Wahl stellt. Entweder Mama, Papa und Kavita oder Nele und mein Baby. Papa ist doch selbst Vater, warum stellt er mich vor diese Entscheidung?

„Ich habe alles gesagt".

Mamas schreckliches Weinen ist alles, was ich jetzt noch bewusst wahrnehme. Sie schlingt ihre zitternden Hände um mich, streichelt mir durch das Haar. Dann liegen ihre Hände auf meinen Wangen und sie gibt mir mehrere Küsse auf das Gesicht.

„Bitte lass nicht zu, dass unser Junge uns verlässt... Bitte Jeevan." Mamas Stimme hallt unwirklich in meinen Ohren. Ansonsten ist alles nur noch taub.

Papa schweigt weiter.

Ich drücke Mamas Hände von mir weg. Flüchte schnell aus dem Wohnzimmer. An der Tür bleibe ich einen letzten Moment stehen, werfe einen Blick auf meine Eltern. Auf meine weinende Mutter, die jetzt am Boden kniet. Und auf meinen Vater, der noch immer am Fenster steht und sich keinen Meter von der Stelle rührt.

Wie sehr ich mir wünsche, dass all das hier nicht Wirklichkeit ist!

Alles ist so taub!

Einfach nur taub!


Nele

Vivek hat so viele Tränen geweint, den ganzen Weg zum Flughafen in Mumbai hat er geweint. Immer wieder hat er sich umgeschaut. Er hat sich so sehr erhofft, dass seine Eltern uns aufhalten. Wahrscheinlich hat er zumindest gehofft, dass sie sich von uns verabschieden. Aber da war nur Kavita, die ihren großen Bruder sehr lange festgehalten hat. Die mich umarmt hat. Die so viele Tränen auf mein T-Shirt geweint hat. Uns zum Abschied gewunken hat, bis wir sie nicht mehr sehen konnten. Und auch im Flugzeug hat Vivek noch geweint, bis er irgendwann erschöpft eingeschlafen ist. Die ganze Zeit habe ich schon ein schlechtes Gewissen und obwohl Vivek so traurig ist, hat er mir immer wieder versichert, dass ich nichts für die ganze Situation kann und mir bitte nicht so viele Gedanken darüber machen soll. Natürlich mache ich mir trotzdem meine Gedanken-

Sein Vater hat ihn verstoßen. Vivek kann nicht wieder zurück nach Hause. Er ist dort nicht mehr willkommen. Weil Vivek sich für mich entschieden hat. Unsere Liebe war schon vom ersten Moment an so kompliziert und jetzt fühlt sie sich irgendwie falsch an. Obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche. Immer getan habe! Ich habe ein schlechtes Gewissen ihn so sehr zu begehren. Bin ich schuld, dass er seine Familie verloren hat?

Nachdem wir vor ein paar Stunden zuhause angekommen sind, habe ich mich erstmal bei Marleen ausgeweint und Vivek hatte ein sehr langes Gespräch mit Jörg. Irgendwie beruhigend, dass meine große Schwester und ihr Mann so verständnisvoll sind und sogar bereit waren, Vivek in unsere Wohnung einziehen zu lassen, zumindest so lange, bis wir uns eine eigene leisten können. Jörg hat Vivek sogar schon einen Job in seinem Büro besorgt. Er hat sich da wirklich gleich reingehängt und vor ein paar Minuten mit seinem Chef telefoniert, der das Ganze gleich abgesegnet hat. In einer Woche kann Vivek schon Probe arbeiten. Irgendwie so viel auf einmal. Aber mit was hatte ich gerechnet?

„Wie geht es dir...", frage ich Vivek, als wir endlich alleine sind und in meinem Bett liegen.

„Wie geht es dir, Süße?", stellt er mir die Gegenfrage. Seine Augen schauen mich müde an. Ja auch ich bin müde. Der Flug war verdammt anstrengend. Viel Schlaf habe ich die knappen acht Stunden nicht gefunden.

„Müde...", wispere ich schließlich. „ Traurig...schuldig, aber gleichzeitig fühle ich mich gerade jetzt einfach nur pudelwohl".

„Du musst dich nicht schuldig fühlen...", murmelt er und streichelt mir die Wange. „Du bist meine Süße... Mein Mädchen...Und ich kann nicht mehr ohne dich leben".

„Aber deine Eltern.. Kavita..."

„Es wird wieder gut werden...", murmelt er. „ Eines Tages wird es wieder gut werden." Vivek zieht mich in seine Arme. Umhüllt mich mit seiner Umarmung. Etwas später nehme ich nur noch sein regelmäßiges Schnaufen wahr.

Womit habe ich diesen wundervollen Mann in meinem Leben verdient?

My Heart belongs to YouWhere stories live. Discover now