Papierfetzen

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Nele

„Das hast du jetzt nicht wirklich gemacht?" Entgeistert schaut Vivek mich an. Seine dunkelbraunen Augen glitzern dabei verdächtig und kurz halte ich inne, ehe ich mir entsetzt die Hand vor den Mund schlage. Vivek lässt den leeren Karton, den er in den Händen hatte, zu Boden gleiten und stürzt auf mich zu. Er greift in den Mülleimer neben mir und versucht die Papierfetzen zusammenzusetzen, aber es ist sinnlos. „ Das war der letzte Brief von meinem Großvater. Er hat ihn kurz vor seinem Tod geschrieben." Verzweifelt fährt Vivek sich durch das dichte Haar.

Und ich sitze nur wie versteinert auf dem Schreibtischstuhl, in meiner linken Hand noch die restlichen Papiere. Seit gestern haben wir angefangen die wenigen Habseligkeiten von uns auszusortieren und eigentlich wollte ich nur ein paar alte Rechnungen schreddern. Zu blöd, dass in dem ganzen Chaos ausgerechnet der Brief von Viveks Opa in meine Unterlagen gerutscht ist. Und gerade eben habe ich ihn geschreddert.

„Es tut mir so furchtbar leid...", wispere ich. „ Das wollte ich nicht. Ich weiß doch, wie viel dir dieser Brief bedeutet... hat".

„Du hast doch keine Ahnung...", faucht er mich an. „Ich wollte dir eigentlich nur den Karton vorbeibringen, damit du die Bücher einpacken kannst...", Er schiebt den Karton etwas zur Seite, so dass ich nicht darüber falle. „ Ich muss nochmal in die Arbeit. Bin aber in zwei Stunden wieder hier."

„Es tut mir wirklich leid, Vivek."

Er geht wortlos aus dem Raum. Seufzend greife ich in den Mülleimer, aber es hat keinen Sinn. Die Schnipsel sind einfach zu klein und viel zu viele.


Vivek

Ob ich zu streng zu Nele war? Es war eine bescheuerte Idee wortlos zu flüchten. Sie kann ja nichts dafür, dass Opas Brief in den Stapel ihrer Unterlagen gerutscht ist. Zurzeit ist einfach nur absolutes Chaos zuhause. Wir sind gerade dabei die wenigen Dinge zu ordnen, die Nele in ihrem Zimmer angesammelt hat. Und wie es sich rausgestellt hat, waren es gar nicht so wenige. Vor allem die vielen Unterlagen, die sich in ihren Schubladen versteckt haben, wollten erst einmal sortiert werden. Da kann so ein Schlamassel schon mal passieren. Aber musste es ausgerechnet Opas Brief sein? An manchen Tagen habe ich den Brief nur gelesen, um Opas Schrift zu sehen. Wir hatten eine sehr gute Bindung. Ich habe mich immer bestens mit meinem Opa verstanden und als er starb, brach eine Welt für mich zusammen. Damals war ich erst zwölf Jahre alt gewesen und ich stelle mir so oft vor, wie es heute wäre, wenn Opa noch leben würde. Hätte ich auch ihm das Herz gebrochen, weil ich einfach davon gelaufen bin? Ein paar Tränen laufen mir die Wange hinab und schnell wische ich sie weg. Ich darf jetzt nicht heulen. In ein paar Minuten habe ich ein wichtiges Gespräch mit einem meiner Mandanten. Da muss ich absolut professionell bleiben.

Nachdem ich das lange und intensive Gespräch mit meinem Mandanten endlich beendet habe, fahre ich nicht gleich nach Hause. Nein ich habe eine Überraschung für Nele, um die ich mich noch kümmern muss. Der Möbeltransporter wartet schon auf mich, als ich mit ein bisschen Verspätung in unserer neuen Wohnung ankomme. Die Straßen sind nicht annähernd so voll wie in Mumbai und trotzdem stehe ich auch hier in Stuttgart sehr oft im Stau, vor allem wenn es Feierabendzeit ist.

„Wir tragen Ihnen das noch in ihre Wohnung...", meint der kleinere der beiden Möbelpacker kaugummischmatzend.  „Welcher Stock?"

„Gleich im ersten Stock. Die linke Tür."

Nachdem die beiden Männer ihre Arbeit vollbracht haben, stehe ich mit Jörg im Kinderzimmer und betrachte die vielen Kartons. Am liebsten hätte ich die Männer von der Möbelfirma auch noch gebeten mir beim Aufbau der Möbel zu helfen, aber dafür fehlt uns momentan einfach das nötige Kleingeld.

„Na dann packen wir's oder?" Jörg klatscht in die Hände, greift nach der Schere, die auf dem Parkettboden liegt und beginnt den ersten Karton aufzureißen.

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„Das ist wunderschön...", haucht Nele und betrachtet das Babyzimmer. Marleen und sie sind vor einer halben Stunde hier eingetroffen. Pünktlich und genau nach Plan. Jörg und ich sind total verschwitzt und außer den Wasserflaschen, die wir dabei hatten, gibt es hier noch nichts anderes. Etwas Kühles wäre jetzt super. Wie auf Kommando zieht Marleen zwei Flaschen Bier aus der Kühltasche, die sie mitgebracht hat.

„Perfekt, Schatz", meint Jörg und nimmt die Flaschen entgegen. Eine drückt er in meine linke Hand.

In den letzten Wochen habe ich dieses Getränk für mich entdeckt. Ich mag den herben Geschmack davon sehr.

„Das ist wunderschön. Danke...", meint Nele erneut. Jetzt kommt sie auf mich zu und obwohl ich total verschwitzt bin, umarmt und küsst sie mich lange. „ Wie konntest du das zahlen? So lange arbeitest du doch noch gar nicht und das war sicher richtig teuer..."-

„Mach mal halblang, Nele...", mischt sich Marleen ein. „ Freu dich doch einfach und stell nicht immer so viele Fragen."

„Von wem sie das wohl hat", nuschelt Jörg.

Marleen wirft ihrem Ehemann einen mehr oder weniger vernichtenden Blick zu, dann hakt sie sich bei Nele ein.

„Sagen wir es mal so...", sagt sie schließlich mit einem schelmischen Grinsen. „ Wir haben ein bisschen beigesteuert, immerhin ist es für unsere kleine Nichte... oder unseren kleinen Neffen. Du willst mir ja immer noch nicht sagen, was es wird."

Jetzt umarmt Nele ihre Schwester. Die beiden kichern aufgeregt und murmeln sich immer wieder was zu.

„Ich nehme erstmal eine Dusche. Immerhin steht die ja auch schon", gebe ich schließlich zum Besten, gebe Jörg einen Klaps auf die Schulter und bedanke mich für seine Hilfe.

„Unser Stichwort...", wirft Marleen ein und löst sich von Nele. „ Wir müssen Noah sowieso noch bei Jörgs Mama abholen. Wir lassen euch dann mal alleine". Jetzt zieht sie an Jörgs Arm.

Ich achte schon gar nicht mehr auf die beiden, sondern sehe nur noch Nele vor mir. Vorhin war ich kurz so sauer auf sie, aber das alles ist schon wieder vergessen. Ich kann ihr einfach nicht lange böse sein.

„Es tut mir so leid...", setzt sie wieder an. Ich stoppe mein Mädchen, indem ich sie in meine Arme ziehe. Plötzlich ist da so viel Lust und ein so großes Verlangen.

„Kommst du mit in die Dusche, Süße?...", hauche ich ihr ins Ohr. 

My Heart belongs to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt