Ein kleiner Wurm

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Achtung die TW vom vorherigen Kapitel hat noch Bestand! Bitte darauf achten!


Vivek

Irgendwann hat Jörg mich wieder zu sich geholt. In diesen stickigen Warteraum. Wir sind nicht die einzigen, die verzweifelt und voller Angst hier sitzen und warten. Ein paar Stühle von mir entfernt sitzt eine junge Frau. Am Anfang war sie alleine, bis irgendwann ein junger Mann und zwei ältere Frauen dazukamen. Kaum einer redet. Alle sitzen wir hier... schweigend... zu sehr in unseren eigenen Gedanken versunken... in unserem eigenen Schmerz, der unbändigen Angst und der tiefsitzenden Sorge. Ab und an schnieft jemand. Aber kaum einer traut sich richtig zu weinen. Alle sind wir hier und halten den Kummer so gut es geht zurück. Auch ich beiße mir mit den Zähnen schmerzhaft auf die Unterlippe, um den Schwall Tränen, der sich in meinen Augen sammelt, darin zu hindern zu fließen. Ich will nicht wie ein Häufchen Elend auf dem Krankenhausboden zerbrechen. Am liebsten hätte ich mich für immer in dieser Toilettenkabine verschanzt und meinen Schmerz freien Lauf gelassen, aber ich wollte nicht, dass Jörg sich zu große Sorgen um mich machen muss. Er soll lieber auf Marleen aufpassen. Sie ist schwanger und der ganze Stress und die Sorge um Nele machen ihr sehr zu schaffen.

Nach gefühlten Stunden, biegt Marleen wieder in den Flur ein, auf dem Jörg und ich noch immer warten. Mit der Zeit bin ich schrecklich müde geworden, aber ich habe mich vehement geweigert, nach Hause zu fahren. Auch wenn ich nicht zu Nele gehen kann, kann und will ich nicht daheim rumsitzen und sie hier alleine lassen. An Schlaf wäre sowieso nicht zu denken. Ich reibe mir durch die müden Augen und fokussiere mich dann ganz auf Marleen. Sie ist furchtbar bleich im Gesicht und Jörg eilt sofort zu ihr, um sie zu stützen. Dankbar sinkt Marleen in seine Arme. Ihre Beine geben einfach nach.

„Nele hatte eine vorzeitige Plazentaablösung...", fängt sie an uns zu unterrichten. „Das ist gefährlich für Kind und Mutter. Wie der Arzt vorhin schon gesagt hatte, musste sofort ein Notkaiserschnitt durchgeführt werden...". Erschöpfung schwingt in ihrer Stimme mit. „ Ich habe irgendwann auf Durchzug geschalten, weil ich dem guten Mann einfach nicht mehr folgen konnte. Dieses Fachchinesisch ist einfach zu viel für mich...Auf jeden Fall bleibt uns wirklich nichts anderes übrig, als abzuwarten... Zumindest die Nacht. Morgen können die Ärzte uns vielleicht schon viel mehr sagen". Ihre grüne Augen blicken abwechselnd zu mir und dann zu Jörg. „Ich habe richtig Angst, dass Nele es nicht schafft. Wir haben schon Mama und Papa verloren. Das ist alles zu viel für mich...". In ihren Augen stehen die Tränen und gleich werden sie über ihr Gesicht strömen.

Ich werfe einen Blick auf die Wanduhr, die hier im Wartebereich aufgehängt wurde. Es ist erst kurz nach neunzehn Uhr. Die ganze Nacht ist also noch sehr lange!

„ Euer Baby ist zuckersüß, Vivek...", meint Marleen jetzt. Sie hat Tränen auf ihren Wangen, aber kurz erhellt sich ihr Gesicht und ein kleines Lächeln umspielt ihre Lippen. „ Ich habe die Schwester überredet, dass du es besuchen gehen darfst. Also wenn du möchtest...".

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Die Angst um Nele ist in jeder Zelle meines Körpers angekommen und hat sich hartnäckig festgekrallt. Eine Welle der Vorfreude durchbricht diesen Zustand für einen Moment und heiser sage ich:" Natürlich will ich mein Baby besuchen gehen..."-

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Ich blicke in das Wärmebettchen und betrachte den kleinen Jungen, der darin liegt. Die Schwester hat mehr als ein Auge zugedrückt und mich zu meinem Sohn gelassen. Die Besuchszeit ist hier auf der Säuglingsstation eigentlich längst vorbei. Zehn Minuten habe ich jetzt Zeit. Und ich bin unendlich dankbar dafür.

Ein paar Kabel sind am Kopf meines Sohnes angeschlossen und auch der linke Arm ist von diesen nicht verschont worden. Ein schmerzhafter Anblick, das eigene Baby so verkabelt sehen zu müssen. Doch trotzdem fühle ich jetzt so viel. Stolz und Freude machen sich in mir breit, dazu noch pures Glück und all diese positiven Gefühle vermischen sich mit der Angst und der großen Sorge um Nele. 

Er ist bei uns. Unser Sohn ist bei uns angekommen...Wie sehr wir uns gefreut haben, als der Arzt uns mitteilte, dass es ein Junge wird. Nele und ich waren so glücklich und voller Liebe. Natürlich hätte ich mich auch über ein kleines Mädchen gefreut, sehr sogar. „Hauptsache gesund", haben Nele und ich fortan immer gesagt. Der kleine Mann ist gesund, zumindest den Umständen entsprechend. Er muss sich von ein paar Infekten erholen, die er sich wahrscheinlich durch die Plazentaablösung geholt hat. Aber die Schwestern haben mir gesagt, dass mein Sohn stark ist. Ein Kämpfer. Ich hoffe so sehr, dass sie damit Recht haben.

Vorsichtig legt die Schwester meinen Jungen in meine Arme. Mein Sohn ist so winzig. Jetzt realisiere ich es erst richtig. Ein kleiner Wurm in meinen großen Händen. Vorsichtig halte ich ihn. Er schläft tief und fest. Sein kleiner Brustkorb hebt und senkt sich im gleichmäßigem Takt. Unter der Mütze, die er anhat, ragen ein paar schwarze Stoppeln hervor. Wenn Nele ihn jetzt sehen könnte. Sie würde sich sofort in ihn verlieben.

„Deine Haare hat er auf jeden Fall schon einmal", höre ich sie sagen. Stolz und Freude in ihrer Stimme, ein engelgleiches Lächeln auf den Lippen. Ich spüre erst, dass ich weine, als eine der Tränen in meinen leicht geöffneten Mund dringt und wegen dem salzigen Nachgeschmack verziehe ich kurz das Gesicht. Vorsichtig lege ich den Kleinen zurück in das Wärmebettchen.

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Als ich wieder zu Jörg und Marleen in den Wartebereich der Intensivstation einbiege, steigt mir sofort wieder der beißende Geruch von Desinfektionsmitteln in die Nase. Ich schlucke den Drang zu Würgen hinunter und lasse mich kraftlos neben die beiden auf den letzten freien Plastikstuhl sinken. Am liebsten würde ich Jörg und Marleen nach Hause schicken, aber die beiden sind genauso stur wie ich. Keiner von uns will Nele alleine lassen.

„Er ist wunderschön", murmele ich in die Stille. „ Der Kleine ist wunderschön".

„Das ist er wirklich. So schön, dass ihr einen Jungen bekommen habt", meint Marleen schlaftrunken. Es muss furchtbar unbequem für sie sein, aber schließlich legt sie ihren Kopf in Jörgs Schoß und schläft ziemlich schnell ein.

Auch ich schließe meine Augen und nicke immer wieder weg, nur um im nächsten Moment nach Atem ringend wieder aufzuwachen.

Bitte lass Nele wieder gesund werden...!

My Heart belongs to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt