Das unsichtbare Band

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Vivek

Es ist wirklich absurd...

Meine Mutter und meine kleine Schwester schlafen in meinem Wohnzimmer, auf einer Doppelmatratze, die Jörgs Eltern uns geborgt haben. Es ist ja nicht so, dass Mama oder Kavita verwöhnt sind. Meine Schwester ist zwar mit dem selben Luxus aufgewachsen, den auch ich genießen durfte. Wir beide hatten nicht nur ein eigenes, noch dazu riesiges Zimmer, nein, daneben noch ein extra Spielzimmer für all unser Spielzeug, einen Fitnessraum und sogar ein separates Fernsehzimmer. Trotzdem sind Kavita und ich überhaupt nicht eingebildet oder abgehoben. Wir waren uns durchaus immer bewusst, dass es in unserem Land auch Menschen gibt, die sich zu fünft oder mehr, eine Ein-Zimmer Wohnung, ohne fließendes Wasser und Strom, teilen müssen. Es gab eine Zeit, da wollten Kavita und ich unsere Extrazimmer an genau solche Menschen kostenlos vermieten, aber Papa und Mama waren immer dagegen. So haben wir einen Plan ausgetüftelt und uns versprochen, jährlich unser gesamtes Taschengeld an diese Menschen zu spenden. Tatsächlich haben wir das eine Weile durchgezogen, bis Kavita es spannender fand, sich Süßigkeiten und später Stoff für ihr Hobby, Saris zu nähen, zu kaufen.

Das Bild, das sich mir jetzt bietet, ist trotzdem etwas surreal und ich muss mich erst noch daran gewöhnen.

Müde schlage ich ein paar Eier auf und gebe sie in die heiße Pfanne. Ich brauche jetzt dringend etwas im Magen und sicher freuen sich Mama und Kavita auch über Frühstück. Vorsichtig schiele ich in die Wiege, die ich nahe an die geöffnete Küchentür, geschoben habe. Josha schläft tief und fest. All die Müdigkeit und Erschöpfung löst sich in Luft auf, als ich meinen Sohn so friedlich schlafen sehe. Ich könnte ihm stundenlang dabei zusehen und hätte mich trotzdem noch lange nicht satt gesehen. Er ist wahrlich... ein Wunder.

„Hier riecht es ziemlich verbrannt", meint Mama alarmierend, als sie mit wirren Haaren und verschlafenen Augen in die Küche kommt.

„Ach nein...", murmele ich und hechte zum Herd. „ Das sollte eigentlich Rührei geben".

Missmutig blicke ich in die Pfanne und betrachte die verbrannten Eier darin. Jetzt ist es eigentlich nur noch eine traurige, verbrannte Pampe. Mein Magen gibt ein wütendes Zischen von sich, so als wolle er sagen, das hast du echt super hinbekommen, Vivek. Hunger habe ich trotzdem noch.

Schnell schiebe ich die Wiege ins Wohnzimmer, damit Josha nicht so viel von dem Gestank in der Küche, einatmen muss. Gut, dass diese Wohnung eine separate Küche mit Tür besitzt.

„Ich übernehme das Frühstück", ruft Mama aus der Küche.

Ich lasse mich auf das kleine Sofa plumpsen.

Schließlich hat Mama neues Rührei gezaubert. Kavita hat ein bisschen gemurrt, als sie wachgeworden ist. Immerhin ist das Wohnzimmer gleichzeitig Esszimmer. Ein paar Minuten später sitzt meine Schwester mürrisch neben mir und schaufelt sich eine Gabel Rührei in den Mund. Kavita ist wirklich kein Morgenmensch.

„Wie steht Papa dazu, dass ihr beide hier seit?" Diese Frage schwirrt mir jetzt so lange in meinem Kopf herum und ich hoffe sehr auf eine ehrliche Antwort. Außerdem sind wir hier auf neutralem Boden.

Mama und Kavita wechseln ein paar Blicke, die ich nicht richtig deuten kann.

„Papa war ziemlich ruhig...", beginnt Kavita schließlich zu erzählen. „ Er hat eigentlich nicht viel dazu gesagt, als Mama und ich ihm erzählt haben, dass wir zu dir nach Stuttgart fliegen werden. Stattdessen hatte er das Bild, das Mama kurz vor Opas Tod aufgenommen hat, in der Hand. Du weißt schon, dieses, wo Papa, du und Opa drauf sind. Die ganze Zeit hat er es angestarrt."

Es tut ein bisschen weh, als ich an Opa denke. Er war nicht nur Papas Vorbild, sondern auch meiner. Natürlich habe ich als Kind, in erster Linie zu meinem Vater aufgeschaut und ihn nachgeahmt, aber Opa war ein zweites, sehr wichtiges, männliches Vorbild für mich.

„Das ist ein gutes Zeichen, oder?", frage ich verzweifelt. 

Papa, Opa und ich. In meiner Kindheit waren wir drei unzertrennlich. Ob das nur daran lag, dass ich als Junge geboren bin? Ich weiß es nicht. Es ist ja auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass es ein unsichtbares Band gab, das uns drei zusammengehalten hat. Es ist zerbrochen oder zerschnitten worden, als Opa starb. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zwölf Jahre alt. Trotzdem glaubte Papa weiter an unser Bündnis und obwohl Opa tot war, hat er immer an unserem Zusammenhalt und unserer Liebe zueinander, festgehalten. 

Papa und ich... Ein Team!

Für immer?!

Unwillkürlich treibt es mir die Tränen in die Augen. Ich habe Papa verlassen, genauso wie Opa uns vor zehn Jahren verlassen hat. Der feine Unterschied ist jedoch, dass ich freiwillig gegangen bin und genau wusste, dass ich damit Papas Herz brechen werde. Außerdem habe ich erfolgreich verdrängt, dass ich unser Bündnis und gleichzeitig Opas Andenken, in den Dreck gezogen und diesen Klumpen Erde anschließend vor Papas Füße geworfen habe.

„Papa wird dir eines Tages vergeben können". Mama streichelt mir sanft den Rücken.

„Wie konntest du mir vergeben?", wispere ich.

„Ich habe eingesehen, dass du nicht mehr der kleine Junge bist, der alles tut, was seine Eltern sagen. Und als ich dann erfahren habe, dass Dayita dich nicht liebt, da habe ich... ich habe verstanden, dass du in dieser Ehe immer unglücklich gewesen wärst. Und, dass Nele die bessere Wahl ist. Ich habe gesehen, wie sie dich anschaut. Der selbe Blick, dem ich eurem Vater seit Jahren schenke."

„Es tut mir so leid, Mama. Es tut mir so unendlich leid."

„Es ist gut, mein Junge", sagt sie liebevoll. Noch immer sitzen wir im Schlafanzug im Wohnzimmer. In Mumbai haben wir das seit Jahren nicht mehr gemacht. Eigentlich noch nie. Jeder von uns war schon fertig angezogen und gerichtet, wenn wir uns im Esszimmer versammelt haben. Ich vermisse mein zuhause dort wirklich sehr. Aber gleichzeitig fühle ich mich hier in dieser relativ kleinen Wohnung, sehr wohl. Hier ist alles viel... vertrauter. Und ich muss nicht erst in das obere Stockwerk rennen, um bei Josha zu sein, wenn er weint.

Josha. Ich kann noch heute nicht wirklich fassen, dass Nele darauf bestanden hat, dass wir unseren Sohn so nennen.

„Ich will, dass unser Sohn immer weiß, wo er hingehört. Er soll sich immer bewusst sein, dass er ein Vaghel ist", hat sie mir ins Ohr gemurmelt. „ Daher möchte ich den Kleinen Josha nennen".

An diesem Abend war ich sprachlos. Und verliebte mich noch ein kleines bisschen mehr in Nele- wenn das überhaupt noch möglich ist.

Jetzt denke ich an Papa, während ich Josha auf dem Arm halte und ihn füttere.

Und an meinen Opa...

Yosh!

My Heart belongs to YouWhere stories live. Discover now