Tiefblaue Augen

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Vivek

Einige Monate zuvor

Heute ist der dreißigste Januar 2021. Eigentlich hatte ich für dieses Jahr neue Vorsätze. Einer davon war endlich von den Zigaretten loszukommen, aber ich habe vielleicht drei Tage durchgehalten und bin dann wieder schwach geworden. Blöde Sucht, aber was solls. Die Sache mit "Neues Jahr- neue Vorsätze", ist an sich eine gute Idee, aber ich scheitere jedes Jahr aufs Neue mit meinen Vorhaben. Trotzdem nehme ich mir immer wieder fest vor, dass ich es dieses Mal endlich durchziehen und schaffen werde. Aber...

Scheibenkleister!

Ich halte kurz inne, seufze  tief ein und aus und laufe dann weiter. Wie so oft jogge ich. Das ist mein zweitliebstes Hobby. Am liebsten mag ich es, meine siebzehnjährige Schwester zu ärgern. Ihr Name ist Kavita und ich liebe sie über alles. Wobei ich sagen muss, dass es eher sie ist, die mich ärgert...

Die laute Musik aus meinem I-Pod dröhnt durch meine Kopfhörer in meine Ohren und für die paar Minuten vergesse ich den ganzen Großstadtlärm um mich herum. Seit meiner Geburt lebe ich in Mumbai und hier ist auf den Straßen, ständig was los. Angst vor großen Menschenmassen darf man nicht unbedingt  haben und wenn man Ruhe sucht, dann ist man hier mehr als falsch. Ich hatte als Kind das Glück, dass ich einen Ort gefunden habe, der nicht ganz so besucht ist und an dem man sich auch mal ein wenig zurückziehen und durchatmen kann. Ganz geschweige von dem Verkehr, der auf Mumbais Straßen, herrscht. Es ist manchmal wirklich kein Durchkommen, da ist man zu Fuß oder mit dem Fahrrad doch um einiges schneller... Aber trotz allem und vielleicht gerade deswegen, liebe ich meine Heimat über alles.

Mein rechter Fuß verhakt sich in das Rad eines Kinderwagens, ungeschickt pralle ich mit meinem Körper gegen die Person, die diesen schiebt... und bei all dem Glück landen auch noch meine Kopfhörer, die noch relativ neu waren, auf dem harten Asphalt der Straße. Die sind jetzt auf jeden Fall im Eimer. 

Na wunderbar!

"Kannst du nicht aufpassen", empöre ich mich energisch gegenüber der anderen Person. Heute bin ich ziemlich genervt. Der Tag fing schon ziemlich bescheiden an und ohne eine Kopfschmerztablette zum Frühstück, würde ich wahrscheinlich jetzt noch im Bett liegen und vor mich hin vegetieren. Ich fluche noch ein wenig auf Hindu vor mich hin, all die Schimpfwörter, die mir gerade so in den Kopf schießen, dann trifft mein Blick das Mädchen, das ich gerade angerempelt habe. Ich schaue zuerst in tiefblaue Augen und entdecke dann einen Teint, der dem Mondlicht gleicht. Augenblicklich verändert sich meine Stimmung total. Da ist plötzlich nur noch Watte in meinem Kopf. Und so viele Schmetterlinge in meinem Bauch. Es fühlt sich eigenartig an. Sehr schön und gleichzeitig etwas unangenehm. Ich kenne das Mädchen noch nicht einmal und trotzdem ist sie mir so vertraut und löst solche Gefühle in mir aus.

"Hast du keine Augen im Kopf?", schießt das Mädchen in einem perfekt gesprochenen Englisch zurück. "Du kannst froh sein, dass dem Baby nichts passiert ist. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte alles passieren können".

Ich starre sie nur an. Starre auf die kirschroten Lippen, die sich bis eben noch bewegt haben. Oh verdammt! Ich starre nur! Das Mädchen wartet nicht auf eine Antwort von mir, nein sie schiebt den Kinderwagen an mir vorbei, es stört sie nicht, dass ich noch immer ganz nah an diesem stehe und es mir vielleicht wehtun könnte. Ich spüre nur ihren Arm, der mich streift, als sie so nah an mir vorbeiläuft. Und mein schnelles Herzklopfen, das mir die Stimme und sämtliche Sinne raubt. Zu meinem Glück steuert das Mädchen ein Hotel ganz in der Nähe an und endlich finde ich meine Stimme wieder.

"Mein Name ist Vivek", schreie ich." UND ES TUT MIR LEID".  Ich warte darauf, dass sie sich noch einmal umdreht, wie oft habe ich so etwas in Filmen gesehen, aber das Mädchen läuft schnurstracks weiter und dann wird sie von dem großen Gebäude verschluckt. Ich dagegen verharre noch minutenlang auf der selben Stelle.

Gibt es eigentlich so etwas wie Liebe auf den ersten Blick auch in der Realität oder wird das nur immer in Filmen so gezeigt?

Nele

Ich habe meine große Schwester Marleen dazu überredet eine Auszeit zu nehmen. Das Ziel ist circa 7000 Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Und es ist bevölkert- stark bevölkert. All diese Menschen hier gehen ihren eigenen Weg, haben ihre eigenen Sorgen und interessieren sich nicht für uns. Schon als ich aus dem Flugzeug ausgestiegen bin, habe ich mich ein wenig besser gefühlt. Ich konnte seit Wochen endlich mal wieder richtig durchatmen und der Schmerz in meinem Herzen, hat sich für ein paar Minuten etwas leichter angefühlt. Hier in Mumbai sind meine Schwester und ich, nur zwei winzig kleine Teilchen von der Gesamtmasse. Fast schon unsichtbar. Es bleibt natürlich nicht aus, dass Marleen und ich manchmal ganz faszinierend angeschaut werden. Es kommt hier eben doch nicht oft vor, dass man Menschen mit einem hellen Teint über den Weg läuft, aber auch das macht mir nicht wirklich etwas aus.

Marleen ist ein großer Bollywood Fan. Sie hat schon einige indische Filme angeschaut und war deshalb sofort Feuer und Flamme, als ich ihr vorgeschlagen habe, für einen Monat nach Mumbai zu gehen. Sie sieht ehrlich gesagt etwas enttäuscht aus, als sie nach und nach versteht, dass hier nicht alles so aussieht, wie es in den Filmen gezeigt wird. Trotzdem ist sie total begeistert und freut sich schon riesig darauf, die Umgebung zu erkunden. Vor allem auf das Meer freuen wir beide uns sehr. 

Ich bin gerade dabei Noah aus dem Kinderwagen zu hieven. Er ist Marleens sechs Monate alter Sohn und mein Neffe. Wir sind beide total in den Kleinen vernarrt. Und das natürlich aus einem bestimmten Grund. Er ist einfach nur zuckersüß, mit seinen runden Knopfaugen und der Stupsnase. Meine große Schwester liest gerade in einem Tourguide. Ich bin wirklich gespannt, was sie sich gleich morgen früh, als erstes ansehen will. 

"Hat Noah ein wenig geschlafen?", frägt sie mich, als ich ihr den Kleinen sanft in die Hände lege. Marleen beginnt sofort den Kleinen zu füttern.

"Er hat super gut geschlafen, bis dieser Kerl meinte in uns hineinlaufen zu müssen... Geschieht ihm Recht, dass dabei seine Kopfhörer kaputt gegangen sind...", murmele ich. In meinen Gedanken bin ich immer noch bei dem durchaus attraktiven Inder. Ich muss ständig an diese bernsteinfarbenen Augen denken, die mich für den Moment, in ihren Bann gezogen haben. Ich muss zugeben, es hat mir tatsächlich ein bisschen gefallen, dass es ihm kurz die Sprache verschlagen hat. Jetzt muss ich mich noch davon erholen, dass mein Herz kurz wie wild in meiner Brust getrommelt hat, als ich so dicht an ihm vorbei gelaufen bin. Es war irgendwie magisch-

"Dieser Kerl, heh?", wiederholt Marleen und grinst mich an. In ihren grünen Augen liegt ein amüsiertes Funkeln. Fehlt nur noch, dass übertriebene Grinsen auf ihren Lippen. Wie auf Kommando zaubert es sich in ihr Gesicht.

"Ach lass mich", meckere ich wie ein kleines Kind, das gerade in der Trotzphase ist. Ich habe jetzt wirklich keine Lust, mir von meiner Schwester anhören zu müssen, dass ich mich verknallt habe. Stattdessen will ich einfach nur ein bisschen alleine sein, um meine Gedanken zu sortieren. Vielleicht aber auch um ein bisschen zu träumen... Ich gehe sicher, dass Noah nicht in der Schusslinie ist, dann pfeffere ich Marleen ein Kissen entgegen. Sie bleibt bei dem bescheuerten Grinsen und ich verschwinde seufzend ins Badezimmer.


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