Kapitel 33

171 26 3
                                    

»Wilhelm, hi«, begrüße ich ihn und versuche mir dabei nicht anmerken zu lassen, wie überrumpelt ich bin.

»Hallo, Florentina. Ich hoffe, dir geht es gut?«, sagt er, wobei ich sein warmes Lächeln durch die Leitung hören kann. Irgendwas scheint dennoch in seiner Stimme zu liegen. Er wirkt fast... bedrückt?

Ich hole lautlos Luft, dann antworte ich möglichst unverfänglich: »Es geht. Bin nur etwas müde. Wie geht es dir? Wo warst du heute? Also, wenn ich fragen darf...«

»Natürlich darfst du das! Ich habe auch genau deshalb angerufen. Ich dachte mir schon fast, dass dir das etwas komisch vorgekommen sein muss. Ich war heute bei einem Arzttermin.«

Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. »Oh, ist... alles okay?«

Wilhelm seufzt. »Nun, leider ist es das nicht.«

»Was hast du? Was ist los?«, schießt es sofort aus mir heraus.

»Es ist Krebs. An der Prostata.«

Für einen Moment vergesse ich zu atmen. Ich merke, wie mir das Handy aus der Hand rutscht und kann es im letzten Moment noch fangen, bevor es auf den Boden knallt. Atemlos stottere ich: »Aber... wie... seit wann? Kann man... also machen sie es raus? Welches Stadium?« Die Gedanken schwirren in Lichtgeschwindigkeit durch meinen Kopf. 

»Langsam, Florentina. Ja, ich werde operiert, sie machen es raus, um es in deinen Worten zu sagen. Es wird alles gut, hörst du?«

»Woher weißt du das denn? Wie will man das wissen?«, rufe ich erschreckend atemlos aus. All meine Probleme wirken auf einmal sehr unwichtig und existieren nicht mal mehr im Hintergrund. Alles, woran ich denken kann, ist Wilhelm und die Tatsache, dass er tatsächlich sterben könnte. Er ist auch nicht mehr unbedingt der Jüngste...

»Florentina, bist du in der Lage, mir kurz mal zuzuhören?«

»I-ich versuche es«, stammele ich.

»Gut, das ist alles, was ich will. Sieh mal, es ist Krebs, ja, das stimmt. Aber zu meinem Glück wurde er frühzeitig erkannt und ist gut operabel. Die Chancen stehen sehr gut, dass ich das überstehe. Ich werde also aller Wahrscheinlichkeit noch nicht das Zeitliche segnen. Das kommt schon noch früh genug, aber fürs Erste bin ich hier noch nicht fertig.«

»Okay«, piepse ich, meinen wummernden Herzschlag in den Ohren.

»Kannst du mir etwas versprechen, Florentina?«

»Was?«, hauche ich, den Tränen nahe.

Er antwortet: »Bitte hab keine Angst und sei nicht traurig. Denkst du, du schaffst das?«

»Nein!«, entgegne ich, fast schon entrüstet. Wilhelm lacht leise. »Gut, das war vielleicht auch eine etwas dumme Forderung. Aber wie wäre es, wenn du mir versprichst, es zu versuchen?«

Ich wische mir eine Träne von der Wange, die sich doch irgendwie aus meinem Augenwinkeln gestohlen zu haben scheint. »Okay, das kann ich machen.«

»Gut, damit tust du mir schon mal einen riesigen Gefallen. Das beruhigt mich auch etwas, muss ich sagen. Der Gedanke, dass andere Menschen wegen mir leiden, gefällt mir nicht. Zumal es dafür nicht einmal wirklich einen Grund gibt! Ich werde wieder gesund!«

»Dir ist aber schon klar, dass es Menschen gibt, denen du am Herzen liegst? Natürlich werden wir mit dir leiden!«

Er seufzt schwer. »Das ist mir selbstverständlich klar, Florentina. Aber trotzdem gefällt mit die Vorstellung, dass andere wegen mir traurig sind, nicht besonders.«

Plötzlich kommt mir ein Gedanke. »Weiß Sten schon davon?«

Wilhelm räuspert sich. »Nein. Ich werde ihn jetzt anrufen.«

»Hätte er es nicht als erstes erfahren sollen?«

Wieder räuspert er sich. »Nun ja, das Gespräch mit ihm wird um einiges intensiver und kräftezehrender, als das mit dir. Er ist schließlich mein Sohn. Ich schätze, ich wollte es vor mir herschieben.«

»Aber du rufst ihn jetzt an, oder?«, dränge ich.

»Ja, das verspreche ich.«

Wir verabschieden uns und ich lasse mich auf mein Sofa fallen. Mein Handy rutscht mir aus meiner schlaffen Hand und landet nun doch auf dem Boden.

...

Seit dem Telefonat habe ich jegliches Gefühl für Zeit verloren. Deshalb weiß ich nicht, ob eine Stunde oder fünf vergangen sind, als es an meiner Tür klingelt. 

Ich raffe mich dazu auf, zur Tür zu schlurfen und die Gegensprechanlage zu betätigen. »Ja?«, frage ich kraftlos. »Florentina? Hier ist Sten.« 

Ein eiskalter Schauer jagt durch meinen Körper. Allein seine Stimme zu hören, stellt die merkwürdigsten Dinge mit mir an. Momentan herrscht das größte Gefühlschaos in mir, das ich jemals in meinem Leben hatte. Mir war bisher nicht klar, dass es überhaupt möglich ist, so viele verschiedene Dinge gleichzeitig zu fühlen...

Ohne ihm zu antworten betätige ich den Türöffner. Als er vor meiner Haustür steht, betrachte ich ihn kurz durch den Spion. Er wirkt vollkommen zerstreut. Kein Wunder. Vermutlich hat Wilhelm ihm die Nachricht überbracht... 

Ich öffne die Tür. Stens Hand schwebt in der Luft, als wollte er klopfen. Er lässt seine Hand sinken und sieht mir einfach in die Augen, ohne Worte. »Hallo«, sage ich leise, vollkommen gefangen von seinem Blick. Er schluckt sichtlich. »Hallo«, entgegnet er eben so leise. 

Ich will für Sten da sein. Ich will, dass er sich an meiner Schulter ausweinen kann, ich will sein Fels in der Brandung sein. Doch all das bringe ich einfach nicht über mich. Ich schaffe es nicht, so zu tun, als wäre ich diejenige, auf die er sich verlassen kann, wenn ich ihn in Wahrheit doch belüge. 

Doch ich bekomme nicht einmal die Chance, auch nur einen dieser Gedanken zu äußern. 

Sten tritt in die Wohnung ein, schließt in einer fließenden Bewegung die Tür hinter sich und reißt mich in seine starken Arme. Sein großer Körper umgibt mich und mir wird fast schwindelig von seinem Geruch. Es sollte verboten sein, so gut zu riechen, wirklich. 

»Florentina«, murmelt er in mein Haar und meine Kehle schnürt sich so stark zu, dass ich für einen Moment keine Luft mehr kriege. 

Ich überlege nicht, was zu tun ist. Ich schalte meine Gedanken für diesen Moment einfach ab. 

Ich schließe meine Arme um Sten und murmle beruhigende Dinge. Mit Bestürzung realisiere ich irgendwann, dass er weint. 

Ich tue alles dafür, mir meine Überforderung und meinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Entschlossen bugsiere ich den großen Mann auf die Couch, lege eine leichte Decke über seinen Körper und bereite schnell einen Tee für ihn zu. 

Obwohl ich so schnell wie möglich in der Küche zugange war, sehe ich, dass Sten tief und fest schläft, als ich zurück ins Wohnzimmer komme. Der sonst so mächtig wirkende, große Mann wirkt auf einmal sehr verletzlich. Im schwachen Licht der Deckenlampe sehe ich getrocknete Tränenspuren auf seinen Wangen schimmern. 

Und das ist der Moment, in dem ich meinen eigenen Tränen freien Lauf lasse. 

Not My FitWhere stories live. Discover now