Kapitel 18

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Meine Gewissensbisse fressen mich förmlich auf. Bei lebendigem Leibe.

Allerdings weiß ich auch nicht, was ich dagegen tun könnte. Es ist nun mal so, dass ich das Geld brauche, das ich von Wilhelm dafür bekomme, Zeit mit Sten zu verbringen. Dumm nur, dass Sten doch nicht so ein Arschloch ist, wie am Anfang angenommen. Das würde so vieles leichter machen...

Sten hat noch einiges im Büro zu erledigen, weshalb ich ihn allein lasse und mich auf den Heimweg mache. Jedenfalls hatte ich das vor. Bevor ich es aber aus dem Gebäude schaffe, werde ich aufgehalten. 

»Florentina Martinelli?«, ruft eine helle, weibliche Stimme hinter mir. Langsam drehe ich mich um. Mein skeptischer Gesichtsausdruck verwirrt die junge Frau am anderen Ende des Korridors sichtlich, aber ich kann mir einfach nicht helfen. Ich habe hier schlicht und ergreifend eine schlechte Erfahrung zu viel mit Menschen aus der Firma gemacht. Fairerweise muss man sagen, dass Tate Farn, Stens Assistent, wirklich immer nett zu mir war, aber das hat diese bösartige Dame von der Rezeption leider mehr als zunichte gemacht. 

Die Frau, die vielleicht ein paar Jahre älter als ich sein muss, kommt näher, bis sie mir die Hand entgegenstreckt. »Hallo, ich bin Melissa Wardring. Freut mich!« Ich schüttle ihr die Hand und stelle mich ebenfalls (unnötigerweise und einfach nur aus Reflex) vor. Sie hat einen echt originellen, quietschbunten, dennoch sehr elegant wirkenden Stil und wirkt sehr freundlich, doch ich kann ihr deutlich ansehen, dass sie auch anders kann, wenn man es sich mit ihr verscherzt. Widerwillig muss ich gestehen, dass mir dieser spezielle Charakterzug gefällt. Ich weiß starke Persönlichkeiten durchaus zu schätzen. 

»Ich wollte dich nur mal fragen, für welchen Entwurf sich Mr Jakobsen entschieden hat? Ich hoffe, es ist okay, wenn ich ›Du‹ sage?«

Ich nicke. »Klar, auf jeden Fall. Ich finde dieses Siezen oft sowieso irgendwie albern. Und um deine Frage zu beantworten: Er hat den genommen mit den silbernen Elementen.«

Überrascht wandern ihre Augenbrauen in Richtung ihres karamellbraunen Haaransatzes. »Nicht dein Ernst! Jetzt echt?« Die dicke dunkelbaue Hornbrille rutscht ihr vor Aufregung fast von der Nase. Ich nicke bekräftigend. »Ja, hat er. Ich war auch überrascht, dass ich ihn dazu überreden konnte.«

»Oh, das war dein Einfluss? Gott im Himmel, danke! Du hast keine Ahnung, wie langweilig es ist, mit ihm zusammenzuarbeiten, wenn es um seine heiligen Visitenkarten geht. Wirklich ein wahrer Schmerz.«

Ich steuere den Fahrstuhl an und sie begleitet mich. Anscheinend ist sie auch auf dem Weg nach draußen, oder zumindest in eine andere Etage. »Warum das? Weil er immer das gleiche Design haben will?«

»Korrekt. Hast den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Im großräumigen Fahrstuhl angekommen, drücke ich den Knopf für das Erdgeschoss. Fragend sehe ich Melissa an und sie nickt nur bestätigend, also wird sie wohl auch dahin müssen.

Als der Lift sich in Bewegung setzt, frage ich sie: »Arbeitest du fest in der Firma oder wirst du immer wieder für einzelne Aufträge engagiert?«

»Ich arbeite tatsächlich fest hier und habe sogar ein eigenes Büro. Mr Jakobsen tut wirklich alles dafür, dass ich nicht von anderen Firmen abgeworben werde. Ich bin wirklich gut.« Sie zwinkert mich über den Rand ihrer Brille an und ich lache. 

»Woher wusstest du eigentlich, dass ich mit Sten... äh, Mr Jakobsen einen Entwurf aussuche?«

Meinen Versprecher übergeht Melissa mit einem verschmitzten Grinsen, dann antwortet sie: »Er hat es mir gesagt.«

»Oh, ach so.«

»Jep.«

Als die Fahrstuhltüren sich öffnen und wir nebeneinander das Foyer betreten, blicke ich bewusst nicht in Richtung Rezeption. Noch eine Auseinandersetzung mit dieser alten Schabracke könnten meine Nerven heute wirklich nicht mehr vertragen. Meine Bullshit-Toleranzgrenze wurde heute mehr als nur ein bisschen überschritten. 

Wir verlassen das Gebäude und bleiben vor dem Eingang stehen. Ich wende mich Melissa zu und frage: »Warum hast du ihn nicht selbst gefragt? Wegen des Entwurfs?«

Sie grinst. »Naja, ich habe dich gerade aus seiner Tür rausgehen sehen und die Chance quasi ergriffen. Bis ich erst zu ihm ins Büro gebeten werde, vergehen Äonen und ich war wirklich neugierig, wofür er sich nun entschieden hat.«

»Verstehe. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich dich echt bewundere. Allein die Vorstellung, dass du diese Entwürfe quasi über Nacht hergezaubert hast, ist echt krass.«

Sie zwinkert. »Ich werde auch entsprechend bezahlt, mach dir keine Sorgen.«

Kurz stehen wir etwas unschlüssig voreinander. Dann fragt sie: »Hast du Lust, einen Kaffee trinken zu gehen? Ich wollte mir gerade einen holen gehen, aber zu zweit ist es doch viel lustiger.«

»Gerne!«, entgegne ich, obwohl ich eigentlich vorhatte, heimzugehen. Ich habe das Gefühl, dass ich seit dem Auszug meiner Mitbewohnerin nicht mehr so viel soziale Interaktion habe und irgendwie vermisse ich es. Außer meiner Familie, Wilhelm und seit neuestem Sten, habe ich nicht wirklich etwas in der Richtung vorzuweisen... wobei ich sagen muss, dass das mit meiner Mitbewohnerin jetzt auch nicht wirklich als ›Freundschaft‹ durchgegangen wäre. Aber trotzdem, seitdem ich die meiste Zeit meines Alltags allein bin, fehlt es mir, andere Menschen um mich herum zu haben. 

Deswegen kann es sicher nicht schaden, diese Melissa etwas besser kennenzulernen. Sie ist mir sympathisch und falls wir doch feststellen sollten, dass wir uns am Ende nicht viel zu sagen haben, können wir immer noch problemlos getrennte Wege gehen.

...

Nach dem zweiten Café Americano haben wir uns schon im Groben unsere Lebensgeschichten erzählt. 

Melissa ist vor sieben Jahren mit dem Studium fertig geworden und hat zuvor noch in anderen Firmen und sogar bei Magazinen gearbeitet, wo sie unter anderem fürs Layout zuständig war. Als sie mir einige Namen besagter Magazine nennt, falle ich fast von meinem gepolsterten Stuhl. 

Ich habe sie gefragt, wie es dazu kam, dass sie dann doch bei Sten gelandet ist und sie hat schlicht geantwortet: »Ganz ehrlich? Ich wurde oft unterbezahlt und habe Lust auf Abwechslung gehabt.«

Natürlich fragt sie mich auch, was ich mit Sten zu tun habe. Ich antworte ihr, dass ich ihn über Wilhelm, meinen Chef und seinen Vater, kennengelernt habe und wir Freunde geworden sind. Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie nicht weiter nachfragt, sondern einfach das Thema wechselt. Zum Einen kann ich ihr nur begrenzt viel erzählen und zum Anderen will ich gerade nicht unbedingt an Sten denken. 

Melissa besteht darauf, den Kaffee und die Gebäckstücke, die wir uns genehmigt haben, für uns beide zu zahlen. Wir vereinbaren, dass ich beim nächsten Mal dran bin und als ich auf dem Weg nach Hause bin, grinse ich bei dem Gedanken daran. 

Scheint, als hätte ich eine neue Freundin gefunden.

Not My FitWhere stories live. Discover now