Kapitel 10

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Auf dem Heimweg ärgere ich mich noch immer darüber, dass es meine Familie mal wieder besser zu wissen scheint, als ich selbst.

Selbstverständlich hat es sich als absolut sinnlos herausgestellt, ihnen zu erklären, dass ich lediglich auf geschäftlicher Basis mit Sten essen war. Alles, was zu zählen scheint, ist Federicos Auffassung der Situation. Ich lache trocken vor mich hin.

Irgendwie ist es ja auch witzig. Ärgerlich und witzig. Beides gleichzeitig. Interessant, wie gut diese beiden Wörter meine Familie sehr genau auf den Punkt bringen. Liebenswert, das sind sie auch in erster Linie. Aber oh, so verdammt anstrengend...

...

Die nächsten Tage verlaufen relativ ereignislos. Ich arbeite meine Schichten bei Wilhelm ab, wir essen gemeinsam zu Mittag und unterhalten uns... nichts ungewöhnliches also.

Das einzige ›Ungewöhnliche‹ war vielleicht, dass wir uns an meinem ersten Arbeitstag nach meiner Zeit mit Sten natürlich darüber unterhalten haben. Besser gesagt: Wilhelm hat mich ausgefragt. Er wollte jedes einzelne Detail über meine Zeit mit seinem Sohn wissen. Ich glaube, Wilhelm war relativ zufrieden mit dem, was ich ihm erzählt habe. Er tut sich generell schwer, seiner Gefühlswelt Ausdruck zu verleihen, aber das kleine Lächeln, das sich auf seinem faltigen Gesicht breit gemacht hat, war Hinweis genug.

Doch abgesehen davon war das Thema Sten seitdem nicht mehr auf dem Tisch – was mir mehr als recht war.

Als ich dann heute munter dabei war, die Blumen in den Vasen der Eingangshalle auszutauschen, war ich so überrascht, plötzlich Sten durch die Flügeltür marschieren zu sehen, dass ich beinahe eine der sehr kostbaren Kristallglasvasen auf dem Marmorboden fallengelassen hätte.

Vielleicht wäre es doch nicht so schlecht gewesen, das Thema Sten auf dem Tisch zu haben.

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, merkt er anstelle einer Begrüßung trocken an. Ich schnaube. »Du reichst auch vollkommen.«

Ich hätte nicht gedacht, dass ich derart überrumpelt sein würde, Sten wiederzusehen. Schätze, eine kleine Vorwarnung hätte wohl einiges geändert. In den letzten Tagen war ich so sehr mit anderen Dingen beschäftigt – und habe Sten vielleicht auch absichtlich aus meinem Kopf verbannt – dass es mich doch ein wenig kalt erwischt, ihn zu sehen.

»Warum bist du da?«, frage ich mit verschränkten Armen. Sten blickt an mir vorbei zu dem kleinen Beistelltischchen mit den neuen Pfingstrosen.

»Ich glaube, die Vase steht nicht ganz mittig.«

»Ich glaube, das ist immer noch mein Job.«

Er lächelt spöttisch, eine Braue gehoben. »Sollte es eigentlich sein.«

»Wir können ja tauschen, wenn du willst«, brumme ich. Er hebt abwehrend die Arme. »Gott, bloß nicht! Du würdest meine Firma gegen die Wand fahren!«

Ich ziehe eine Schnute. »Du bist so ein eingebildeter Klugscheißer.«

Er lacht auf. »Was besseres fällt dir nicht ein?« Fast wirkt er enttäuscht, als hätte er sich schon darauf gefreut, sich ein Wortgefecht mit mir zu liefern.

Zuckersüß lächle ich. »Mit der Wahrheit fährt man für gewöhnlich am besten.«

Ein Geräusch lässt uns innehalten. Wilhelm steht oben am Treppenabsatz, welcher in seine privaten Gemächer führt. Seine Hände sind in einer gerührten Geste gefaltet und er hat ein für meinen Geschmack etwas zu seliges Lächeln im Gesicht.

»Ach, wie schön euch zusammen zu sehen. Ich weiß nicht, wann ich Sten das letzte Mal so habe lachen hören.« Wenn er nur wüsste, dass Sten mich eigentlich ausgelacht hat...

»Lass gut sein, Vater«, murmelt er. Er wirkt, als würde er am liebsten im Boden versinken. Mich könnte er eigentlich gleich mitnehmen.

»Wir haben eine Menge Spaß«, versuche ich mich dennoch an einer munteren Konversation. Sten wirft mir indessen einen Seitenblick zu, der sich gewaschen hat. Er flüstert aus dem Mundwinkel: »Was soll diese prätentiöse Scheiße?«

Ich pruste los. »Meine Güte, hast du ein Wörterbuch im ganzen verschluckt?«, flüstere ich zurück.

»Ach, das freut mich«, kommt es wieder von Wilhelm. Ich denke, Sten und ich sollte aufhören, dem armen Wilhelm falsche Hoffnungen zu machen. Andererseits ist es ja eigentlich genau das, was wir vorhaben: ihm was vorspielen.

Ich schätze, ich werde doch zur Beichte gehen.

...

»Irgendwie fühlt sich das ziemlich falsch an.«

Sten spricht aus, was ich im Kopf habe. Ich seufze. »Ja, das kann ich bestätigen.«

Wir sind gerade auf dem Weg zu einem Pommes-Imbiss. Wilhelm allerdings denkt, dass ich Sten bei der Auswahl neuer Möbel in seinem Büro helfe. Wir waren beide der Meinung, dass es nicht sehr viel Sinn hätte, das tatsächlich zu tun. Schließlich wissen wir, woran wir sind und haben unser Ziel klar vor Augen.

Scheinbar lässt der Glanz dieses Ziels langsam, aber sicher nach.

»Was sollen wir tun?«, fragt Sten jetzt, die dunkelblauen Augen in die Ferne gerichtet. Es ist fast schon lächerlich, wie gut dieser nachdenkliche Gesichtsausdruck ihm steht. Schade, dass wir auf persönlicher Ebene nicht so wirklich zu harmonieren scheinen. Denn schön anzusehen ist er allemal.

»Weitermachen?«, schlage ich trocken vor. Sten schweigt, um gefühlte Stunden später zu antworten: »Ich weiß es nicht. Was, wenn wir es ihm einfach sagen?«

Allein dabei diese Option vor Augen zu haben, bricht mir der kalte Schweiß aus. Ich würde meine Wohnung nicht bezahlen können!

Abrupt bleibe ich stehen, sodass ich fast über meine eigenen Füße stolpere.

»Nein! Auf gar keinen Fall!«

Sten dreht sich zu mir um, die Arme verschränkt, und beachtet die ganzen Leute gar nicht, die an uns vorbeiströmen, wie ein Schwarm Fische.

»Und warum nicht?«

»Weil das Wilhelm traurig machen würde – erinnerst du dich nicht? Dieses Gespräch hatten wir schon mal.«

Sten betrachtet mich argwöhnisch. »Seit wann liegt dir das Wohl meines Vaters so am Herzen?«

Seine Frage trifft mich tatsächlich, das muss ich also nicht spielen. »Er ist seit Jahren mein Chef. Ein guter Chef. Nicht nur das, wir sind auch Freunde, ob du's glaubst oder nicht. Natürlich liegt mir sein Wohl am Herzen!«

Sten scheint mir zu glauben. Ich habe auch die Wahrheit gesagt. Trotzdem fühle ich mich so schrecklich, als wäre ich die größte Betrügerin unter dieser Sonne. Denn ich betrüge nicht nur Wilhelm, sondern auch Sten...

Not My FitWhere stories live. Discover now