Kapitel 17

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Ich unterdrücke ein Schluchzen und wische mir fahrig über die nassen Wangen, doch das hätte ich mir genauso gut sparen können. Der Tränenfluss will einfach nicht versiegen.

»Sag mir, was du brauchst. Bitte! Ich will dir helfen!«

Stens Stimme dringt wie durch einen Nebel zu mir durch. Am Rande meines Verstandes nehme ich wahr, dass er reichlich überfordert wirkt. Ich versuche erneut, mich zusammenzureißen, leider erfolglos.

»Entschuldigung«, murmle ich tränenerstickt. Gott, dass ist mir alles so peinlich! Sten legt mir seine großen Hände auf die Schultern und mustert mich eindringlich.

»Ich will nicht, dass du dich entschuldigst. Es gibt keinen Grund. Sag mir einfach, was los ist. Was kann ich für dich tun?«, fragt er mich sanft, dennoch energisch.

Ich hole tief Luft, was ironischerweise ein Geräusch verursacht, als würde ich ersticken. Dann sage ich mit gebrochener Stimme: »Ich... ich bin einfach... überlastet.« Und das ist die Wahrheit... nicht die ganze, natürlich. Aber was genau mich überhaupt dazu bringt, nicht mit solchen Stresssituationen wie der inkompetenten Frau von der Rezeption umgehen zu können, ist meine nervliche Belastung, wie ich in diesem Moment realisiere. Und besagte Belastung kommt von...

Ja. Von meinem schlechten Gewissen Sten gegenüber. Dem Druck, den ich verspüre, wenn es darum geht, mich finanziell über Wasser halten zu können. Diese beiden Dinge reichen anscheinend schon aus, um kräftig an meinem Nervenkostüm zu rütteln.

Ich weiß, dass ich Sten irgendwas sagen muss. Er braucht eine Erklärung, hat sie in meinen Augen auch verdient. Also erzähle ich ihm, was sich in der Lobby zugetragen hat.

Während meiner Erzählung kann ich beobachten, wie seine Miene langsam von besorgt zu verärgert und schließlich zu wütend wechselt. Ich bin etwas überrascht, da ich nicht damit gerechnet habe, dass er sich so darüber ärgern würde, wenn ich von einer seiner Angestellten nicht richtig behandelt werde. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich automatisch davon ausgegangen bin, dass er mich nicht leiden kann. Dieses Missverständnis scheinen wir ja aus dem Weg geräumt zu haben... weshalb seine Reaktion jetzt in diesem Moment natürlich doch Sinn für mich ergibt.

Als ich fertig bin, schweigt Sten für einen Moment. Seine Nasenflügel blähen sich kurz auf, als er lautlos Luft ausstößt. Mit abermals zusammengepressten Lippen sieht er mich an. Gespannt warte ich auf das, was er jetzt sagen wird.

»Florentina.«

›So heiße ich‹, hätte ich im Normalfall jetzt gesagt, ein sarkastisches Grinsen im Gesicht. Doch gerade bin ich null dazu aufgelegt. Ich schaffe es ja kaum, mir die Tränen zu verkneifen.

Also nicke ich nur schwach zum Zeichen, dass er fortfahren soll. Was er auch prompt tut.

»Ich werde diese Frau entlassen. Mit sofortiger Wirkung.«

»Oh«, sage ich nur. Ich bin mir trotz allem nicht sicher, ob ich mich so wohl damit fühle. Man scheint mir meine Gedanken von der Stirn ablesen zu können, denn Sten schüttelt beschwichtigend den Kopf.

»Bitte mach dir keine Gedanken. Ich muss dir etwas gestehen: Es kam nicht nur einmal vor, dass sie sich unangemessen gegenüber unseren Besuchern oder sogar Kunden verhalten hat. Da sie privat unter einer hohen Belastung steht, weil sie ihre kranke Mutter pflegen muss, hat die Firma bisher ein Auge zugedrückt. Aber das können wir schlicht nicht mehr machen.«

Ich kann förmlich spüren, wie mir jegliches Blut aus dem Gesicht weicht. Hätte ich doch bloß nichts gesagt.

»A-aber ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass sie ihre Mutter nicht mehr versorgen kann! Ich möchte nicht, dass sie wegen mir–«

»So ist das nicht!«, unterbricht mich Sten. Verdutzt verstumme ich. Er sammelt sich für einige Sekunden, dann fährt er fort: »Sie bekommt eine gerechte Abfindung. Außerdem werde ich höchstpersönlich darauf achten, dass sie einen anderen Job findet, der zu ihr passt und mit dem sie sich und ihre Mutter finanziell gut durchbringen kann – nachdem sie Workshops zum Thema höfliche Umgangsformen und dergleichen absolviert hat. Stimmt dich das etwas froher?«

Verschnupft antworte ich: »›Froher‹ ist vielleicht nicht das passende Wort, aber ich bin zufrieden.«

Sten nickt abschließend, wie mir scheint. »Gut. Dann widmen wir uns jetzt der Auswahl an neuen Designmöglichkeiten für meine Visitenkarte.« Er wirkt, als würde er auf Einwände von meiner Seite warten. Als jedoch nichts in der Richtung kommt, entfernt er sich von mir und nimmt die gleiche Pose ein, die er hatte, als ich vor wenigen Minuten das Büro betreten habe – über dem Schreibtisch brütend.

Nach kurzem Zögern folge ich ihm dorthin. Sten greift sich eine der Karten und hält sie in die Höhe. »Was hältst du von dieser hier? Ich glaube, das Design ist mein Favorit.«

Zweifelnd sehe ich den Sohn meines Chefs von der Seite an. »Ganz sicher?« Ich bin wirklich froh über die Ablenkung. Fast schon entrüstet wendet er sich mir mit dem Oberkörper zu. »Was ist falsch damit?«

»Damit ist nichts falsch, aber...«

»Aber?«

Ich hebe die Schultern. »Naja, es sieht einfach genau so aus wie der ursprüngliche Entwurf.«

»Gar nicht wahr!«

»Doch, du scheinst dich nicht aus deiner Komfortzone zu trauen.«

»Das ist... hallo? Das stimmt nicht!«

»Tut es.«

»Nein! Ich weise das entschieden zurück.«

Stens vehemente Beteuerungen bringen mich zum Lachen. Kurz huscht so was wie Erleichterung über sein Gesicht, dann wird er wieder schneller ernst, als ich schauen kann. Fast wirkt es, als hätte ich mir die Weichheit in seinen Augen bloß eingebildet.

Mit schief gelegtem Kopf betrachtet er die Karte eingehender, hält sie ein Stück weiter weg, führt sie dann wieder ganz nah an seine Augen... schließlich schnaubt er und lässt die Karte auf den Tisch fallen.

»Gut, du hast einen Punkt. Aber welche ist denn dann deiner Ansicht nach die vorteilhafteste Option?«

Ich grinse. »Also, ich finde die am besten«, antworte ich und greife zeitgleich nach einer Karte, die zwar auch weiß ist, jedoch nicht nur eine einzige Schriftfarbe und Schriftart hat. Stattdessen sind ein paar schöne, lineare Details in Silber eingearbeitet, die alles edel, professionell und nicht zu überladen wirken lassen.

Sten runzelt jedoch die Stirn. »Ist diese nicht ein wenig zu...?«

»Zu was? Zu cool? Ich bitte dich.«

In einer kapitulierenden Geste hebt er die Hände. »Gut, du bist die Chefin. Dann wird das meine neue Visitenkarte.«

Leicht verwundert sehe ich ihn von der Seite an. »Also, im Idealfall sollte dir das Design schon auch gefallen.«

Sten übergeht meinen Einwand und grinst mich nur an. »Ich vertraue dir.«

Er hat keine Ahnung, was diese Worte in mir auslösen. Er kann es natürlich nicht wissen. Du solltest mir nicht vertrauen...

Not My FitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt