Kapitel 6

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Heute ist ein heißer Tag.

Und dass ich permanent den Gehweg mit einem Halbgott teilen muss, macht es auch nicht unbedingt besser. Ich denke nicht, dass ich jemals das Bild aus meinem Kopf kriegen werde, wie Sten sich das Sakko von den Schultern streift und seine Hemdsärmel nach oben krempelt. Eine so simple Geste, trotzdem...

»Florentina?«

Ich schrecke aus meinen leicht unanständigen Gedanken hoch. Die Art und Weise, wie mein Name aus Stens Mund klingt, befeuert besagte Gedanken nur. So wie Wilhelms Sohn mich ansieht, hat er sicherlich öfter als nur ein Mal versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich reiße mich zusammen.

»Äh, ja?«

»Ich wollte dich fragen, ob du Hunger hast?«

Beinahe hätte ich den Karton mit den Akten auf den Boden fallen lassen und wäre im Anschluss vermutlich noch drüber gestolpert. Sten nimmt mir quasi meine Arbeit ab.

»Klar. Willst du was essen gehen?«, frage ich so beiläufig wie möglich. Sten nickt nur und fährt damit fort, naja... seinen Karton zu tragen. Unsere Arbeit ist relativ monoton, was sich eigentlich perfekt dafür eignen würde, miteinander ins Gespräch zu kommen. Leider Gottes ist Sten Jakobsen ein sehr stiller Zeitgenosse. Er hat nicht ein einziges Mal den Versuch einer Unterhaltung mit mir unternommen. Warum er jetzt noch was mit mir essen gehen will, ist mir daher eigentlich schleierhaft.

Die Akten, um die es heute geht, haben wir aus dem Bürogebäude, in dem Sten normalerweise residiert, in ein Auto getragen und praktisch zwei Blocks weitergefahren. Von dort tragen wir sie nach oben. Gott sei Dank hat auch dieses Gebäude einen Fahrstuhl. Es ist zwar nicht ganz so hoch wie das, in dem ich heute zuerst das Vergnügen hatte, groß genug ist es jedoch trotzdem, um vom Treppensteigen Muskelkater (und womöglich einen mittleren Kreislaufzusammenbruch) zu bekommen.

Ich spüre, wie mein Magen knurrt. Das Geräusch selber wird von dem Lärm hupender Autos und telefonierender Menschen um uns rum übertönt. Gott sei Dank. Ich habe schon das Gefühl, dass mein Magen sich in wenigen Sekunden selbst verdauen wird, wenn ich nicht bald etwas zwischen die Zähne bekomme.

»Wir sind fast fertig.«

Noch eine Sache, die Sten zu lieben scheint: das Offensichtliche feststellen.

»Das hast du sehr scharfsinnig bemerkt«, kommentiere ich. Sten schnaubt mit stoischer Miene. »Wenn du nicht so langsam wärst, hätten wir schon längst essen können.«

Ich bleibe so abrupt stehen, dass die Sohlen meiner knallroten Fake-Fell-Schlappen dumpf quietschen. »Na, hör mal, jetzt ist aber gut mit den Kommentaren über meine Geschwindigkeit!« Dies ist nämlich bei Gott nicht das erste Mal, dass Sten sich heute im Laufe dieser Aktion über mich und meine – in seinen Augen – nicht vorhandene Effizienz beschwert hat.

»Gut, ich verkneife es mir.« Dankbar nicke ich. Dann fügt er leise hinzu: »Wenn du dich beeilst.«

Augenrollend widerstehe ich dem Drang, ihm gegen das Scheinbein zu treten und packe die Kanten des Kartons in meinen Armen zähneknirschend fester an.

Man mag es kaum glauben, doch es dauert nicht mehr lange, bis wir endlich fertig sind. Sten streicht sich mit einer Hand durch das kurze, leicht wellige sandblonde Haar und schnauft durch – wobei er kein bisschen erschöpft wirkt. Ich will gar nicht wissen, wie ich gerade aussehe. Denn im Gegensatz zu ihm sehe ich das Gym nicht jeden zweiten Tag von innen. Im Grunde genommen weiß ich gar nicht, ob ich jemals ein Gym von innen gesehen habe...

»Ich störe dich ja nur ungern bei deinen Tagträumereien, aber ich hätte wirklich gern eine Antwort auf meine Frage.«

Verdammt, ich habe es schon wieder getan.

»J-ja... was war die Frage nochmal?«, frage ich mit klimpernden Wimpern, was bei Sten so ungefähr null zu ziehen scheint.

Er seufzt. »Ich wollte wissen, worauf du Lust hast?«

Um Gottes Willen, solche Wörter aus Stens Mund zu hören stellt sehr komische Sachen mit mir an. Warum hat er auch so eine tolle Stimme?!

»Ich, äh...« Mein Zögern tarne ich als Durchschnaufen und puste mir eine schwarze Locke aus der Stirn, die irgendwie ihren Weg aus meinem hohen Dutt gefunden hat. »Keine Ahnung, such du aus«, bringe ich dann hervor. Er nickt knapp. »In Ordnung, dann Italienisch.«

»Ach, nee, bitte nicht«, stöhne ich. Er hebt überrascht die Brauen. »Warum denn nicht?«

Während wir wieder nach unten gehen, nachdem Sten den Aktenraum hinter uns abgeschlossen hat, erkläre ich: »Das ›Problem‹ ist, dass ich mit italienischem Essen großgeworden bin. Ich kenne nur das Beste vom Besten. Mir ist bisher noch kein einziges Restaurant untergekommen, das an die Kochkünste meiner Familie heranreicht. Die meisten Restaurants tun meiner Meinung nach nur so, als wären sie italienisch. Dabei gehen sie viel mehr auf die kulinarischen Wünsche der Amerikaner ein. New Yorker Pizza ist ein gutes Beispiel. Wenn du verstehst was ich meine?«

Sten nickt nachdenklich während er geistesabwesend eine Gruppe Leute grüßt, die an uns vorbeilaufen und mich keines Blickes würdigen. Wir steuern den leeren Fahrstuhl an und ich drücke den Knopf fürs Erdgeschoss. Die Türen schließen sich geschmeidig.

»Ich weiß sogar genau, was du meinst. Aber vertrau mir, den Italiener, den ich kenne, wirst du lieben.« Es gibt nur ein einziges Restaurant, das meinen Ansprüchen genügt – und das gehört meinem Onkel. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sten genau diesen Italiener meint, geht gegen Null. Damit besteht auch so ziemlich keine Chance, dass ich das Essen in seinem gewählten Restaurant genießen werde.

Trotzdem nicke ich. »Gut, ich gebe dem Ganzen mal eine Chance.« Sten nickt zufrieden.

Als wir uns wieder in Stets noblen Firmenwagen setzen, bereue ich meine Entscheidung bereits. Wahrscheinlich wird es ein richtig teuerer Schuppen sein, den wir gleich mit unserer Gesellschaft beehren und alles, was ich mir dann leisten kann, ist der Brotkorb. Wunderbar.

Doch ich denke nicht dran, einen Rückzieher zu machen.

Wir fahren los und Sten fädelt sich sehr souverän in den Feierabendverkehr ein. Ich muss zugeben, dass ich fast damit gerechnet habe, dass er einen Fahrer hat, der ihn überallhin kutschiert.

»Was schaust du so?«, fragt er, den Blick auf die Straße gerichtet. Unwillkürlich spüre ich Hitze in mein Gesicht aufsteigen. »Naja, ich habe mich nur gewundert, dass du selbst fährst.«

»Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und habe meinen Führerschein schon seit einer ganzen Weile. Warum sollte ich nicht selbst fahren?« Ich zucke die Schultern und antworte nicht.

Den Rest des Weges schweigen wir. Als wir dann am Restaurant ankommen, stellt sich heraus, dass es sich in der Tat um das meines Onkels Federico handelt. Ich habe es ja schon geahnt, als wir in diese Straße abgebogen sind. Hier gibt es kein anderes italienisches Restaurant, von dem ich weiß. Der Pizza-Imbiss an der Ecke zählt nicht.

Ich seufze. Das kann entweder sehr lustig oder sehr peinlich werden. Vermutlich beides.

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