II.I

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Warum Hass?

"Ich verblasse und du merkst es noch nicht einmal."

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Das Aufeinandertreffen der Geschwister lag nun schon einige Wochen zurück. Viel war und vieles war nicht passiert.

Die Ermittlungen in Saejins Fall wurden wieder aufgenommen, aber weitgehend wurden diese innerhalb der vier Wochen nicht geführt. Das Mädchen wusste nicht wirklich, was die Ermittler machten, aber es war definitiv nicht effektiv.

In den Tagen, die vergangen waren, wurde sie ein einziges Mal befragt. Dieses eine Mal war damit geendet, dass sie nichts über ihren Fall gesagt hatte. Mehrfach wurde ihre Opferrolle, die sie nicht nur vorspielte, hinterfragt. Die Fragen waren angreifend und alles andere als angemessen. Die beiden Polizisten hatten das Mädchen sofort abgestempelt. Als was genau wusste Saejin nicht, aber sie waren nicht bereit, ihr zu helfen.

Mehrere Male, innerhalb des Gespräches, hieß es, sie sei nur weggelaufen und habe sich die Geschichte ausgedacht, um Mitleid und Schuld in ihrem Bruder hervorzurufen.

Saejin war nicht mit dem Stress und den Streitigkeiten zwischen den Geschwistern klar gekommen und war am Ende abgehauen. So lange, dass die Jungs sich etwas aufgebaut hatten und es sich für sie lohnte, wiederzukommen.

Das war die Sicht, mit der sie konfrontiert wurde. Es waren nichts als ausgedachte Zusammenhänge, die nicht stimmten.

Dass der Streit ausgeartet war, war ihr bewusst. Sie wusste, dass vieles schief gelaufen war. Und ja, sie war an jenem Tag freiwillig nicht in die Wohnung zurückgekehrt. Aber alles, was danach passiert war, war nicht freiwillig. ATEEZ war ihre zweite Familie. Sie hatten um sie getrauert. Sie vermisst und sie geliebt. Warum hätte sie so etwas ihren engsten Freunden antun sollen? Und dann waren da noch ihre Eltern, deren Schmerz kaum vorstellbar war.

Sie hatte sie beide während der Gefangenschaft verloren. Spätestens dann wäre sie aus freien Stücken zurück gekommen. Aber es gab nichts freies für sie. Sie hatte sich nicht für das Haus im Wald entschieden. Oder für das ekelhafte Essen. Für die Einsamkeit und die Albträume, hatte sie sich nicht entschieden. In Abermillionen Jahren nicht.

Es war traurig und abwertend, dass die Polizisten genau das dachten.

Wann waren Menschen so blind für die Wahrheit geworden? Wann haben Menschen angefangen, den Geschichten von Frauen, von Mädchen, gar von Opfern nicht zu glauben? Wie ist es dazu gekommen?
Sie war ein Opfer. Und niemand, der mit ihrem Fall betraut war, vertraute auf ihre Worte. Sie wollten ihr nicht einmal zuhören.

Dasselbe galt für die Menschheit außerhalb des Reviers.

Für einen kurzen Moment waren die Gerüchte aus der Welt in gewisser Weise. Wenige Tage zuvor war es still auf den Social Media Plattformen gewesen. Das Statement der Gruppe hatte einen gewissen Einschlag gehabt. Doch nach kaum einer Woche waren die Tage der Ruhe vorbei. Sie waren nur eine Stille vor dem Sturm gewesen. Denn danach hatten sich die Gerüchte vermehrt. Sie verbreiteten sich schneller und wurden absurder.

Fotos waren aufgetaucht. Überwachungsvideos und mehr wurden veröffentlicht. Saejin war mit der Zeit nicht nur ein Opfer geworden. Sie war das Opfer. Überall war ihr Gesicht zu sehen. Sie verließ das Gebäude nicht mehr. Die Jungs taten das auch nicht. Die Sicherheit der neunköpfigen Gruppe war Priorität Nummer Eins. Seit dem Ausbruch gab es sie kaum noch. Die Anzahl an Bodyguards vor dem Gebäude und dem Apartment ist gestiegen. Menschen tummeln sich Tag und Nacht zu jeder Minute vor dem Komplex. Die wenigen Momente, in denen einige der Gruppe das Gebäude verlassen mussten, waren stressig. Das Geschrei und Geschubse war unerträglich. Die Enge machte das Atmen meistens nur allzu schwer.

Saejin vermied es Termine außerhalb des Dorms zu haben.  Entweder passierten Sitzungen und  Befragungen über Videochat und ein Arzt kam zu dem Apartment. Nur in seltenen Fällen setzte das Mädchen ein Fuß aus der Tür hinaus. Die Menschenmassen ließen eine Panik in ihr herauf steigen, die sie aufzufressen schien. Sie hatte Angst. Um ihre Privatsphäre, ihre Gesundheit - sowohl mental als auch physisch - und genauso hatte sie häufiger als sie wollte Angst um ihr Leben. Vor einem Monat hätte sie den Tod mit offenen Armen begrüßt. Heute lief sie so schnell wie möglich vor ihm davon.
Die Täter waren immer noch in der Welt. Sie atmeten die gleiche Luft wie sie. Sie waren im gleichen Land wie sie und niemand glaubte dem Mädchen. Sie konnte nicht auf die Polizei hoffen. Wenn sie Glück hatte, würden sich die zwei aus dem Staub machen und sie in Ruhe lassen. Doch es gab keinerlei Anzeichen, dass das der Fall war. Um genau zu sein gab es überhaupt nicht, dass Saejin wusste. Sie fürchtete sich vor dem Unbekannten. Einem Monster, das kein Gesicht hatte. Und ihr stand niemand zur Seite, der ihr half das Monster zu fangen.

Die Lügen schallten durch die Welt und verbreiteten sich. Sie wurden zu waren Geschichten und bekamen mehr Gehör als sie selbst. So sehr sie versuchte die Wahrheit auszusprechen, sie laut in die Welt herauszuschreien, so wenig Gehör bekam sie. Alle verschlossen ihre Ohren und glaubten blind den Gerüchten. Die Nachrichten spiegelten die aufgebrachten Fans wieder. Sie zeigten die Geschichten eben jener, die das Mädchen in den Abgrund stürzen wollten.

Und nicht nur Saejins Leben war stark beeinträchtigt durch die Presse und den Hass, den die Welt für sie hegte. Die Gruppe, die sie mit offenen Armen aufgenommen hatte litt genauso wie sie.  Der Hass, den sie verspürte, spürte ATEEZ ebenso. Sie bekamen eine Hate-Welle, weil sie Saejin vertrauten. Weil sie ihr verziehen und ihr halfen.  Sie liebten, wie auch vorher schon. Weil sie ein Teil ihrer Familie war.

Der Hass war so groß, dass die Stimmung ein Null-Niveau erreicht hatte. Die Tage vergingen mit einer gedrückten Stimmung. Anspannung erfüllte jeden Zentimeter der Wohnung. Die lustigen Abende waren Vergangenheit. Viel Freude gab es nicht. Sie waren alle nicht mehr so ausgelassen und fröhlich, wie am Anfang, als Saejin wieder eingezogen war. Ein Lächeln war nur noch selten auf irgendeinem Gesicht zu sehen. Die Geschwister hatten sich wieder vollkommen vertragen und hielten einander jeden Abend fest in den Armen. Sie suchten Halt ineinander. Es war als gebe es auf dieser Welt niemanden mehr, der ihnen diesen spenden konnte.
Es war als wäre jegliche Liebe vergangen und der Hass hätte ihren Platz eingenommen. Auch wenn es immer noch unterstützende Stimmen in dem Meer aus 'Fans' gab, überwogen diese nicht die schrecklichen Kommentare.

Wie konnte es sein, dass Menschen einen hassten, ohne einen zu kennen? Wann war Hass der Ersatz von Antisympathie geworden? Warum war eine so starke Emotion, so leicht auszusprechen?

Saejin wusste es nicht. Aber sie hatte sich vorgenommen, ihre Geschichte zu erzählen. Wenn ihr niemand half, dann musste sie sich selbst helfen. Sie war nicht alleine. Sie war nicht mehr ein Opfer. Sie hatte überlebt. Und sie würde die Menschheit auch überleben.

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Kann jemand stolz auf mich sein? Ich versuche es!"

[𝐃𝐄, 𝐀𝐓𝐙] Das Gefängnis der FreiheitWhere stories live. Discover now