I.XII

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Verzeihen

"Sie ist der Beweis dafür, dass man
durch die Hölle gehen kann und
immer noch ein Engel sein kann."

・゚: *・゚:*

Saejin war alleine in ihrem Zimmer.

Hätte sie nicht gewusst, dass die Jungs umgezogen waren, hätte sie gedacht, dass sie in ihrem alten Raum stand. Alles sah gleich aus. Das Bett stand am gleichen Ort, der Schreibtisch war genauso unordentlich gewesen, wie sie ihn verlassen hatte. Der Schrank, der neben der Tür stand, beinhaltete immer noch ihre Klamotten und der Schminktisch war am selben Platz. Die Jungs hatten sich viel Mühe gegeben, um das Zimmer genauso aussehen zu lassen, wie es vorher war.

Vielleicht hatten sie Hoffnung gehabt, dass Saejin wieder kam.

Saejin wollte, dass es so war.

Sie stellte die Tasche vor dem Schrank ab. Die Atmosphäre war komisch, als ob sie sich in einem Traum befand. Einem Traum, der sie zurück in die Vergangenheit schickte. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Alles fühlte sich so surreal an. Als ob sie nicht dorthin gehörte. Sie war ein Puzzleteil, das an einer falschen Stelle eingesetzt wurde.

Ein Seufzen entfloh dem Mädchen. Sie war so orientierungslos. Sie fühlte sich verloren. War das wirklich der Platz, wo sie hingehörte? War sie hier richtig?

Mit jedem Atemzug hatte sie das Gefühl, weniger Luft zu bekommen. Etwas schnürte ihre Kehle zu und sie wusste nicht, was genau es war. Erste Tränen stiegen in ihr auf. Ihre Sicht wurde verschwommen. Ihre Atmung war unregelmäßig. Fast schon abgehakt. Panik füllte sie. Warum war sie hier? Warum war sie am Leben? Sie dürfte nicht leben. Wie hat sie überlebt?

Erinnerungen schossen in ihren Kopf. Bilder formten sich vor ihrem Auge und wurden real. Realer als sie die letzten Tage je in ihren Träumen gewesen waren. Eine Person erschien. Sie konnte sie nicht zuordnen. Sie war einfach verschwommen. Nur eine Silhouette, aber die Panik in Saejin verriet ihr, dass es sich um die Person handelte, die sie entführt hatte. Saejin versuchte, ihren Blick zu fokussieren. Die Silhouette zu einem scharfen Bild zu machen, aber es gelang ihr nicht. So sehr sie sich auch anstrengte, es war ihr nicht möglich. Durchaus waren die Umrisse genauer geworden, aber es half ihr nicht weiter.

Der Alptraum, dem sie entflohen war, kam zurück und verfolgte sie. Genauso wie die Bilder. Sie hatte versucht zu verdrängen. Aber es war ihr tausendmal schlimmer wieder überkommen. So schlimm, dass die Bilder wie Realität für sie waren.

Mittlerweile flossen die Tränen so stark, dass Saejin nichts mehr sehen konnte. Außer den Bildern, die sich immer weiter in ihrem Kopf formten. Sie war wach und doch träumte sie. Sie war schon immer eine Tagträumerin gewesen, doch der Alptraum, der sich nun vor ihrem inneren Auge abspielte, setzte sie in eine Paralyse. Sie war zu Boden gefallen. Ihr war unklar, ob sie sich verletzt hatte. Sie spürte keine Schmerzen. Sie spürte gar nichts, außer Panik und Angst. Sie wollte aus dem Traum heraus. Sie wollte aufwachen. Aber sie konnte nicht.

Saejin musste die letzten Monate binnen Sekunden wieder durchleben. Sie musste sich selbst zuschauen, wie sie nur noch existiert hatte. Wie sie nur noch darauf gewartet hatte zu sterben. Sie hatte weniger Essen bekommen, weniger Trinken. Das Wasser war immer dreckiger geworden, sodass sie es irgendwann selbst filtern musste. Sie hatte es geschafft, aber unter welchen Bedingungen? Oft musste sie Tage ohne Essen auskommen. Oft hatte sie den ganzen Tag nur einen Schluck Wasser.

Ihr war bewusst geworden, dass sie sterben würde. Sie wusste nicht wie, aber sie hatte es bemerkt. Sie hatte die Anzeichen gesehen. Weniger Essen, weniger Trinken. Wer auch immer sie entführt hatte, hatte aufgehört, sich um sie zu kümmern. Sie wurde nicht mehr wie ein Preis behandelt. Sie war lästig geworden und das hatte Saejin gemerkt. Ab da hatte sie wieder angefangen zu zählen. Die Tage zu zählen, bis sie tot war. Sie hatte es sich so sehr gewünscht. Würde sie verdursten? Würde sie verhungern? Oder würde sie anders sterben?

[𝐃𝐄, 𝐀𝐓𝐙] Das Gefängnis der FreiheitWhere stories live. Discover now